Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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geblieben und haben sich immer mehr befestigt. Auch das nehmen ihm Manche übel; es ist das nicht die herkömmliche und zunftgemäße Entwickelung. Für Herkömmliches und Zunftgemäßes hat Lindau weder Neigung noch Verständniß. Gerade darin versteht ihn aber das Publicum, und daher dessen Neigung für ihn. Vom ersten Augenblicke an hat es sich auf seine Seite gestellt und sich immer dichter und enger um ihn geschaart; das Publicum hat, eine in Deutschland seltene Erscheinung, den Kampf gegen die zünftige Kritik für seinen Liebling aufgenommen und das Feld behauptet. Und diese Anhänglichkeit ist keine zufällige oder willkürliche. Lindau steht mitten im Publicum und im Tage; in ununterbrochener Fühlung mit Beiden, hat er für die leiseste Regung das richtige Verständniß und den treffendsten Ausdruck. „Es ist Fleisch von unserem Fleische und Geist von unserem Geist,“ schloß Karl Frenzel seine Kritik über „Maria und Magdalena“. Dieses Wort ist der Schlüssel des Geheimnisses, die Erklärung aller Erfolge, die Lindau, gleichgültig auf welchem Gebiete, errungen hat und noch erringen wird; bei aller gerechten Anwartschaft auf die Zukunft ist er zunächst voll und ganz ein Mann der Gegenwart.
Am äußersten Westende Wiens, hart neben der Gumpendorfer „Linie“, liegt ein mäßig großes einstöckiges Haus, welches seltsam und scharf von seiner ganzen Umgebung absticht. Während die daran grenzenden Bauten entweder dörflich bescheiden aussehen oder einen Anlauf dazu nehmen, den Hauscasernenstyl in verjüngtem Maßstabe wiederzugeben, gleicht dieses dunkle, von einem Gärtchen und hoher Mauer umschlossene Haus einem vornehmen Flüchtlinge aus weit entferntem Lande. Es ist ein deutscher Renaissancebau, bei aller Einfachheit in reinem Style aufgeführt, mit vielen Giebeln, Vorsprüngen und Erkern geziert. Die Fenstergitter erinnern an jene Zeit, da das Schmiedehandwerk noch eine halbe Kunst war; die kleinen in Blei gefaßten Scheiben lassen vermuthen, daß es hinter ihnen gar trauliche „Kemenate“ geben müsse. Ein Hauch der Vergangenheit, eine Empfindung, nur mit jener vergleichbar, die ein Gang durch Nürnbergs Straßen erweckt, faßt uns an der Schwelle dieses Hauses, das weit und breit im Munde der Leute „das Schloß“ heißt. Es ist das Heim Friedrich Amerling's, des greisen, aber immer noch jugendfrischen Künstlers, der hier inmitten seiner Schätze haust und Jeden, der sie bewundern will, als liebenswürdiger Hüter des Hortes begrüßt.
Treten wir durch die schmale Pforte in das Gärtchen, so ertönt freudiges Gebell. Zwei gewaltige Hunde – die Alten würden sie Molosser genannt haben – kommen uns entgegen und wedeln zum Zeichen der Freundschaft. Das ist eine sichere Bürgschaft für den herzlichen Empfang, der uns von Seiten ihres Besitzers erwartet. Wer sich etwas auf die Physiologie der Thiere versteht, dem kann es nicht entgehen, wie die Hunde in der Regel den Charakter ihres Herrn annehmen. Wo dir ein bissiger Köter knurrend an die Beine fährt, da ziehe schleunig von dannen – denn da ja nicht gut sein. Wo aber der vierfüßige Wächter des Hofes seinen Kopf gemüthlich an dir reibt, damit du ihn streicheln und krauen sollst, da tritt vertrauensvoll ein! Du kommst zu guten Menschen.
Während wir zwischen den zwei Hunden der Hausthür zuschreiten, hören wir einen feierlichen Choral von oben herab klingen. Es sind Orgeltöne, die langgezogen und mächtig an unser Ohr schlagen; sie passen wunderbar zu dem Hause, dessen Inneres uns wie ein Märchen aus alten Zeiten anmuthet. Kaum haben wir die erste Stufe der Treppe betreten, so ist die Gegenwart hinter uns versunken; wir sind in einem verzauberten Schlosse, das vor zweihundert Jahren oder noch länger von der Dornhecke umgeben und seitdem unverändert erhalten worden ist. Da hängen die alten Bilder in geschnitzten Rahmen, daneben Helme, Schwerter und Speere über den riesigen Eichenschränken; die Sonne scheint nur wie verstohlen durch farbige Gläser, die ein gedämpftes Licht verbreiten. Wäre nicht Alles so blank und rein, könnten wir einige Spinnennetze erblicken, wir fragten: „Wo ist Dornröschen?“ Aber hier waltet offenbar die Hand einer emsigen Hausfrau; hier herrscht frisches Leben, und plötzlich hören wir eine helle Kinderstimme, dann eine andere, und neben dem Vorhange, hinter dem wir die schlafende Prinzessin suchen wollten, taucht ein rosiger Blondkopf auf und sagt: „Papa ist zu Hause.“
Wir schlagen den Vorhang zurück, drücken auf die Klinke des schweren, alterthümlichen Schlosses und sind im Atelier. Der Meister, der noch immer an der Orgel sitzt, hat uns gar nicht bemerkt, und wir müssen ihm erst ein lautes „Bravo!“ für sein Spiel zurufen, bis er uns gewahr wird. Nun springt er mit der Lebendigkeit eines Zwanzigjährigen empor und schüttelt die dargereichte Hand so warm und herzhaft, daß es dem Gaste wohlthut. Hat man, wie das wohl vorkommt, einen Fremden mitgebracht, so fühlt sich dieser nach zehn Minuten heimisch, denn Amerling's offene, frische, allem Zwang und jeder Heuchelei feindliche Natur, sein unbefangenes Wesen voll echter Naivetät sprengen sofort die Schranken gleichgültiger Höflichkeit. In ganzen und vollen Menschen bleibt stets etwas Kindliches; es ist ihr Talisman, der sie vor jeder Berührung mit dem Gemeinen bewahrt und innerlich jung erhält. Amerling hat neben der Kunst des Pinsels auch die andere inne, niemals alt zu werden. Sein Haupt- und Barthaar sind weiß, wie es an einem Dreiundsiebzigjährigen wohl nicht anders sein kann, aber seine hohe Gestalt ist ungebeugt; seine Sinne sind scharf. Er hält sich stramm und läuft über Stock und Stein, ja vor Kurzem sah ich ihn noch im Freundeskreise ein Tänzlein wagen. Stundenlang steht er unermüdet an der Staffelei, und der kleine Blondkopf, dessen wir schon gedachten, ist der lebendige Beweis der ungebrochenen Lebenskraft, welche Fritz Amerling noch heute genießt. Manchmal hat er schon weit jüngere Männer, die ihn besuchten, dadurch fast zur Verzweiflung gebracht, daß er ihnen, selbst stehend oder auf- und niederschreitend, keinen Stuhl anbot. Der Glückliche denkt gar nicht daran, daß man müde sein könne.
Dicht aneinandergedrängt, schmücken über ein halbes Hundert Bilder von des Meisters Hand die Wände des Ateliers. Er hatte stets die Gewohnheit, interessante Personen, die er portraitirte, noch einmal für sich selbst zu malen. So hängt hier eine ganze Galerie merkwürdiger Männer und Frauen, unter den Letzteren vor allen durch ihre Schönheit hervorragend das Bildniß der einstigen Fürstin von Serbien, der reizenden Julie Obrenowich, die ihr Gemahl kurze Zeit vorher verstoßen, ehe er an der Seite seiner zweiten Braut im Parke von Toptschider ein blutiges Ende fand. Zwischen den Portraits sehen wir eine Reihe anderer Werke. Holde Frauengestalten der Mythologie oder der Dichtung entnommen, bevölkern das Atelier. Die tragische Muse zückt den Dolch; Ophelia flicht sich am Rande des Baches Blumen in die blonden Locken; ein Cromwell'scher Krieger blickt hinüber zu Shylock, der eben zu sagen scheint: „Ich wollte, meine Tochter läge todt zu meinen Füßen und hätte die Diamanten in den Ohren.“ Zu den beiden letzten Bildern hat, wie der Beschauer unschwer erkennt, ein und derselbe Bürgersmann aus der Nachbarschaft als Modell gedient, der im Leben weder einem Puritaner noch dem Juden von Venedig gleicht. Es ist merkwürdig, wie Amerling denselben Kopf für zwei grundverschiedene Typen benutzen und ihn jedesmal charakteristisch gestalten konnte. Neben dem in doppelter Ausgabe verewigten Gumpendorfer stehen die beiden jüngsten, noch unvollendeten Bilder des Meisters; das Portrait Anton von Schmerling’s mit den harten, verständigen Zügen, und eine „Lady Macbeth“. Ein ausgezeichnetes Selbstbildniß Amerling's und, als Curiosum des Ateliers, eine Landschaft von seiner Hand – denn auch in diesem Zweige der Malerei hat er sich versucht – seien noch erwähnt. Wollte man alle Bilder beschreiben, die sich hier aus den verschiedensten Epochen des Künstlers zusammengefunden und die Laufbahn eines halben Jahrhunderts bezeichnen, man würde nicht fertig werden. Auch läßt Amerling den Gästen, die er zum ersten Male bei sich sieht, gar nicht lange Zeit, die Arbeiten seines Pinsels zu betrachten, sondern er führt sie gern rasch über den Gang zu seinen Prunkgemächern, auf deren Inhalt er als echter und rechter Sammler fast stolzer ist als auf seine eigenen künstlerischen Leistungen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_132.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)