verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
|
Mir ward es warm um’s Herz, ich dachte an das enge Schmerzensstübchen in der Rue d’Amsterdam, an die Frau Wohl in Frankfurt am Main und an die viereckigen Schwaben, die eher mit dem edlen Chamisso brachen, als daß sie Heine’s Bildniß im Musenalmanache geduldet hätten. Nun sind sie Alle hinübergegangen, und – „Du lächelst, o mein ewiger Vater!“[WS 1]
Die ganze Wehmuth längst überwundenen Weltschmerzes, die liebe „alte Jugendduselei“ überkam mich unabweisbar mächtig, wie sie schon einige Wochen vorher mich ergriffen hatte, als ich einsam im Poetenwinkel der Westminsterabtei saß, in der Riesenstadt an der Themse. Da hob ich meinen Hut vom thauigen Grase auf und eilte hinweg aus der schweigsamen Todtenwelt. Aber ein Vergißmeinnicht, ich will es ehrlich gestehen, habe ich doch vorher in meine Brieftasche gelegt.
Ich schlenderte durch den Boulevard Rochechouart, wo der würdige Kleinbürger wohnt, der Ouvrier seinen herben Landwein trinkt und manche niedliche Arbeiterin in der kleidsamen, auf Brust und Rücken geknüpften Blouse aus dem Fenster lugt. Bei einem Antiquare machte ich Halt und durchmusterte seine dürftigen Vorräthe. Ein altes Büchlein mahnte mich wieder an Heine. – Es war eine Sammlung fremdländischer Gedichte, in’s Französische übertragen von Léon Halévy. Als Heine noch unter den Sterblichen wandelte und ihn eines Tages ein Bekannter fragte, wie es ihm gehe, antwortete er seufzend: „Ich bin im Augenblicke ganz dumm. Léon Halévy hat mich eben verlassen. Wir haben unsere Gedanken ausgetauscht.“ Der alte Witz drang wie ein Sonnenstrahl in meine Seele, und erheitert wanderte ich weiter. Am Boulevard de Magenta traf ich einen befreundeten Landsmann. Wir wechselten flüchtig Gruß und Wort, und als ich mich schon gegen den Straßburger Bahnhof zugewendet halte, eilte er mir nach, ergriff mich am Arme und sagte in fieberhafter Hast: „Sie müssen heute mit mir die Closerie des Lilas besuchen. Es ist ein Freundesdienst, den ich von Ihnen verlange. Um neun Uhr im Café de la Terrasse!“ Damit war er verschwunden, und verwundert schaute ich ihm nach. Was hatte der seltsame, ernste Mann? Seine Stimme zitterte, wie seine Hand. Was hatte er in den Lilas zu suchen, in jenen tollen Studentenbällen, die, in prunkvollen, offenen Sälen abgehalten, ein jede Nacht sich wiederholender Rausch, eine Vorschule für die Bälle der Oper sind?
Wie verabredet, trafen wir uns am Abend und fuhren nach der Closerie. Eine große Menschenmenge umlagerte den Eingang, und wir hatten Mühe, uns bis zu den Tanzsälen durchzukämpfen, wo ich mich an eine der schmucken Säulen lehnte und die tolle Quadrille mit anschaute. Mein Begleiter bat mich, auf ihn zu warten, und schlüpfte gewandt durch die Tanzenden hindurch in den zweiten Saal, von wo er bald bleich und aufgeregt wieder zurückkam. „Folgen Sie mir, mein Freund,“ rief er mir zu und zog mich, da der Tanz eben geendet hatte, bis zur Tiefe des letzten Saales. Er nöthigte mich auf einen Stuhl und setzte sich, den Kopf gebeugt, hinter mich, so daß man ihn vom Saale aus nicht erblicken konnte. „Betrachten Sie sich,“ flüsterte er mir dann zu, „jenes blasse Mädchen mit dem aufgeschürzten schwarzen Kleide, das dort, in der zweiten Reihe, die Cigarre im Munde, am Arme eines Studenten steht. Sie schäkert eben mit einem sonngebräunten Herrn, der, den Panamahut schief auf den Kopf gestülpt, ein Fremder aus den Colonien zu sein scheint. Betrachten Sie sich das Mädchen genau, beobachten Sie scharf, was sie thut, wie sie spricht, suchen Sie mit ihr bekannt zu werden, und sagen Sie mir dann ehrlich, was Sie von dem Mädchen halten. In der zweiten Grotte rechts im Garten erwarte ich Sie.“ Damit eilte er hinweg und ließ mich erstaunt und bestürzt zurück.
Hat er eine Liebelei mit einer Grisette, die ihn verrathen hat, und soll ich etwa das heilige Liebesband wieder festigen? Aber wozu dann dieser feierliche Ton, diese schmerzliche Bewegung? Ich mischte mich unter die Menge, und nicht lange darauf hatte ich das Vergnügen, das Mädchen in ein Gespräch mit mir zu ziehen und mit ihr Arm in Arm auf- und abzuwandeln. Sie sprach lebhaft, witzig, sie scherzte wie die Andern, etwas Eigenthümliches, Besonderliches fand ich in ihrem Benehmen nicht. Nur merkte ich, daß ihr Auge zuweilen unruhig hin und her flog. Als ich ihr aber sagte, daß ich ein Fremder sei, und sie auf ihre Frage nach meiner Heimath erfuhr, ich sei ein Deutscher, da machte sie sich, als erschrecke sie, von meinem Arme los, und die Augen, plötzlich seltsam umflort und wie gebrochen, glitten forschend über mich hin. „Ein Deutscher?“ flüsterte sie und ehe ich’s mich versah, war sie im wilden Menschengewoge verschwunden.
In der bezeichneten Laube fand ich meinen Landsmann, der mir die Hand entgegenstreckte. Er fragte mich nicht, ob ich das Mädchen gesprochen, er schaute mir nur still in das Gesicht und hub darauf an: „Ich bin Ihnen Rechenschaft schuldig. Hören Sie denn meine Beichte: Ich wohnte, wie Sie wissen, in der Rue St. Jacques, der höckerigen, schmalen Straße des Quartier Latin. Ich liebte es, unter diesem leichtlebigen Volke mich herumzutreiben, das mit Grazie zu genießen und zu sterben weiß und dessen Lebensbühne oft nur zwei Coulissen kennt, in die es ein- und ausgeht – Closerie und Morgue. Der unsterbliche Leichtsinn dieser Menschen schickte sich besser zu meiner verbitterten Stimmung, als die kühle Abgeschiedenheit des Faubourg St. Germain oder das tollhausähnliche Hasten nach Geld und Erwerb auf den Märkten jenseits der Seine. Mit meinen Nachbarn stand ich bald auf bestem Fuße; sie schonten meinen Ernst, den sie nicht begriffen, sie ehrten in mir den deutschen Flüchtling, und obwohl ich lange Zeit nur Einen Rock trug, denn es ging mir dazumal noch herzlich schlecht, so ward ich doch mit einer gewissen Auszeichnung behandelt, als wäre ich irgend ein incognito reisender hoher Herr. Dieser eine Rock hat viel verschuldet. Als ich ihn eines Tages den barmherzigen Händen meiner Concierge übergab, die ihn am offnen Fenster salonfähig zu machen suchte, und ich selbst, meiner eigenen Bedürftigkeit spottend, in Hemdärmeln aus meinem Fenster schaute, da stellte sich ein benachbarter Student, ein Jurist aus der Provinz, vor den engen Hausflur, in welchem die Portierloge steht, und sang mit unzweideutiger Anspielung die bekannten Verse Béranger’s:
Ein Tischlein und ein leerer Schrein,
Ein altes Bett auf nackter Diele,
Ein Krug, den nur füllt Gott allein,
Die Flöte, ein paar Kartenspiele,
Dazu der Liebsten Conterfei –
Was braucht er mehr, Fritz Sorgenfrei?
Es war gewiß ein unschuldiger Scherz, der mich selbst ergötzte, aber die zartfühlende Nachbarschaft war darüber höchlich empört; ohne mein Wissen bildete sich eine weibliche Ligue, die ihn zu züchtigen sich verschwur, und als am nächsten Sonntage die fröhliche Gesellschaft in dem reizenden Asnières sich herumtummelte und der übliche Tanz im Freien am Ufer der Seine begann, da weigerten sich sämmtliche Damen, mit dem Frevler zu tanzen, und das Haupt der Verschwörung, die kleine Madelon, hielt ihm eine derbe Strafpredigt. Sobald ich davon erfuhr, war mein Erstes, den Studenten aufzusuchen und ihn meiner versöhnlichen Absicht zu versichern, mein Zweites, nach der niedlichen Madelon mich umzuschauen. Ich hatte das frische Mädchen oft gesehen, wenn sie Abends, von ihrer Arbeit kommend – sie ist in einem Putzgeschäft in der Rue d’Hauteville thätig – müde vom langen Wege, über die Straße trippelte, freundliche Grüße freundlich erwidernd; ich wußte, daß sie mit ihrem Bruder, einem excentrischen Arbeiter, eine bescheidene Siedelei bewohne und sehr spröde und zurückhaltend sei. Alles das, voran meine Eitelkeit, zog mich zu ihr. Es ward mir leicht, dem artigen Kinde mich zu nähern, aber schwer, ihre Liebe zu gewinnen. Mein Talent, mit den Frauen nach Behagen umzuspringen, scheiterte an diesem seltsamen Geschöpfe. Sie war eine Pariserin vom reinsten Blute, und doch welche eigenartige Natur! Sie scherzte und tändelte, wie ihre Gespielinnen, sie schien kein größeres Vergnügen zu kennen, als an Feiertagen einen munteren Ausflug auf das Land zu machen, oder mit gerötheten Wangen, ganz Theilnahme und Hingebung, im Theater Porte St. Martin zu sitzen und die abenteuerlichen Spectakelstücke vom Anfang bis zu Ende anzuhören; sie war die Königin des liebenswürdigen Kreises, den ihre Jugendfreundinnen bildeten, und es war eine Freude, sie zu sehen, wenn sie, die dunklen Augenbrauen ernst zusammenziehend, als Richterin in einem Pfänderspiele Strafen dictirte, oder mit fliegenden Locken auf einem Rasen des Versailler Parks das Ballspiel leitete. Aber wer näher an sie herantreten und in die Tiefe ihres leichterregten Gemüthes blicken durfte, der mußte vor der schrankenlosen Sentimentalität zurückschrecken, die ihre festen Wurzeln darin geschlagen, der mußte erkennen, daß sie nach außen immer nur spielte, immer nur Maske war; und daß in Wahrheit ein namenloser Weltschmerz diese junge Seele durchaus erfüllte. Und was war dieser Schmerz? Unglaube, Verzweiflung, Fatalismus! Sie glaubte nicht an Liebe, denn sie sah nur Verführung, Sinnlichkeit, Eigennutz, sie kannte kein Glück, denn sie sagte sich, daß es nur mit dem besten Herzblut erkauft und, wenn errungen, doch wieder geopfert werden müsse; Glanz und Prunk des Pariser Lebens waren ihr ein Gräuel, weil sie selbst im Elende des Taglöhnerlebens erzogen war und den ohnmächtigen Kampf gegen allen Schmutz und Jammer der Armuth durchgelebt hatte. Sie hing mit Wärme an ihrem Vaterlande, mit Begeisterung an den Ideen der Freiheit, aber sie fand ihr Volk in Eitelkeit und Wohlleben erschlafft, in Gleichgültigkeit versumpft und unfähig zu opferfreudiger Hingebung, zu muthigem Einstehen für die gute Sache.
So war ihr die Welt eine einzige große Lüge, die Zukunft eine Nacht ohne Sterne, die Aufgabe des Lebens ein Oedipusräthsel, unlösbar und darum vernichtend. Wie kam diese einfache Arbeiterin zu so verkümmerter Weltanschauung? Ihr scharfer Verstand, ihr klarer Blick allein konnte sie nicht zu solchen Grübeleien führen: Alles, was sie war, wurde sie durch ihren Bruder und durch die Lectüre. Ihr Bruder gehörte zu jenen halbgebildeten Arbeitern, wie sie die Revolution von 1848 geboren, zu jenen starren Republikanerseelen, die theils jetzt noch einen unnützen Tirailleurkampf führen, theils unmuthig und verbittert in ihre Höhle sich zurückgezogen haben. Von Natur aus finster und menschenfeindlich, hatte ihn das Kaiserreich und das eigene Märtyrerthum, das ihn in jahrelanger Haft gehalten, noch mehr verdüstert, und allen Groll und Schmerz strömte er in die empfängliche Seele seiner Schwester aus.
Er gab ihr Bücher, die Evangelien seiner Gemeinde, jene ironisch ätzenden, mit Selbstverspottung kokettirenden Verse, wie sie seit Gerard de Nerval im Schwunge sind, jene phrasensprühenden Reformationsschriften des neuen Frankreichs, die den Mangel an Gedanken und Endzielen durch verschwommene Tiraden zu verdecken suchen. Was diese Werke aus dem Mädchen gemacht haben – möge der Himmel ihren Verfassern verzeihen! Bald hatte sie an ihnen sich satt gelesen und ohne Verständniß, ohne Leitung, griff sie nach Allem, was sie erhaschen konnte. Tagsüber bei der Arbeit füllte sie ihr Herz mit Träumen, Nachts beim schwachen Lampenscheine, über den Büchern brütend, füllte sie ihr Auge mit Thränen.
In ihrem Köpfchen mußte es sonach verschoben und verschroben genug aussehen, aber solcher Dämmer, solcher Wirrwarr wäre ihr heilsamer gewesen, als die unselige Klarheit, zu welcher er sich nach und nach in ihr löste. Mit unerbittlicher Hartnäckigkeit hatte sie sich nämlich zuletzt ihr eigenes System aufgebaut, mit dem sie freilich leider nicht allein steht: den hoffnungslosesten Nihilismus hatte sie als die einzige Lebenswahrheit erfaßt, und weil ihr warmes Herz sich doch mit allen Fasern einer jungfräulichen Gläubigkeit dagegen empören mußte, so führte der Sieg ihres Geistes nothwendig zu der Krankheit ihres Gemüthes, zur Sentimentalität, zum Weltschmerz.
So fand ich sie, so quälte ich mich Monate lang mit ihr ab und mußte zuletzt überwunden schweigen, wenn sie oftmals, mitten im heftigsten Wortkampfe, mit einem düstern melancholischen Verse des unglücklichen Dichters einfiel, der seinem Wahnsinn und seinem Elend am Laternenpfahl ein Ende machte.
Zwar war sie stets offen und zutraulich mit mir, aber eine innigere Annäherung vermied sie sichtlich und meine Liebe ward darum um desto
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ zitiert nach: Heinrich Heine, Buch der Lieder, 20. Februar 1839. Vorrede zur dritten Auflage.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_663.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)