verschiedene: Die Gartenlaube (1862) | |
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und verbriefte Recht des Volkes anerkannt oder mißachtet werde. Hier galt es einen Kampf des echten, wahren Constitutionalismus gegen den scheinbaren und von der Partei des Absolutismus nur als moderne Maske benutzten, und der Ausgang desselben ist für ganz Deutschland wichtig, für jedes Volk von Bedeutung. Brav und tapfer haben die preußischen Abgeordneten diesen Kampf bisher bestanden; aber er ist noch nicht aus, noch lange nicht zu Ende, und noch oftmals wird man die preußischen Volksmänner in allem Glanz und im Stahl ihrer Rüstung für die Idee unserer Zeit, für das Recht des Volkes, streiten sehen. Denn das übersehe man doch gar nicht, daß Alles, was das preußische Abgeordnetenhaus sich erkämpfen wird, der allgemeinen Sache des politischen Fortschritts zu Gute kommt.
Aus dem oben erwähnten jüngeren Geschlecht der preußischen Volksmänner heben wir diesmal einen Mann heraus, der gerade in dem Kampf gegen den Scheinconstitutionalismus die glänzendsten Fähigkeiten, die entschlossenste Energie entwickelte, nämlich Rudolph Virchow.
Virchow, geboren 1821 bei Cöslin in Pommern, ist ein Zögling der königlichen Pepinière in Berlin. Mit 22 Jahren machte er sein Doctorexamen und trat darauf als Unterarzt in die Charité. Drei Jahre später war er bereits Prosector. Zugleich begann er Vorlesungen über physiologische und pathologische Chirurgie zu halten, die wegen der Schärfe ihrer Auffassung eines sehr vernachlässigten Gegenstandes und wegen der Neuheit der Schlüsse bald ungewöhnliches Aufsehen erregten. Physiologie und Pathologie sind die beiden Grundeintheilungen der Organik, die eine sucht die Bedingungen des Lebens in der organischen Natur, die andere die der Krankheiten und Abnormitäten, die Erkenntniß der Ursachen, welche jede Abweichung von dem natürlichen Typus einer Form oder einer Function bestimmen. Beide Wissenschaften kann man die Philosophie der Medicin nennen, und sie nach langer Mißachtung wieder zu Ehren gebracht und mit neuen großen Entdeckungen und Forschungen bereichert zu haben, ist die Ursache, welche Virchow schon früh zu einer der vornehmsten Zierden der medicinischen Wissenschaften machte. Mit der unerbittlichen Energie und dem gewaltigen Fleiß, die Virchow zu bethätigen weiß, verfolgte er sein wissenschaftliches Bestreben. Er gründete 1847 mit Reinhardt zusammen das „Archiv für pathologische Anatomie und klinische Medicin“, welches die Waffe der Eroberung für seine Forschungen wurde. Nach Reinhardt’s Tode, im Jahre 1847, leitete Virchow diese hochangesehene Zeitschrift allein weiter und hat ihr bis heute mit rastlosem Eifer seine Thätigkeit gewidmet.
Aber der junge Gelehrte mit einem den Neid erregenden Ruhm erfaßte mit seinem vielseitigen Geist auch die Politik. Die Bewegung des Jahres 1848, als er Docent an der Berliner Universität war, rief in Virchow den Geist wach, der bis dahin vergeblich nach Aeußerungen gestrebt hatte. Er war im Februar 1848 vom Ministerium nach Oberschlesien gesandt worden, um die Ursachen des dort wüthenden Hungertyphus zu erforschen. Als er zurückkam, noch voller Eindruck von dieser Reise durch das Elend, fand er den Absolutismus niedergeworfen, das Volk freudetrunken auf den eroberten Citadellen des alten Staatswesens. Was er in der medicinischen Wissenschaft erstrebt, ganz dasselbe war jetzt in dem politischen Leben zum Durchbruch gekommen. Virchow’s wissenschaftlicher Kampf ist durchaus demokratischer Natur, reformatorischen Charakters, der auf die Grundtiefen des Bestehenden hinarbeitet, um von hier aus sich gegen die Abnormitäten, Gebrechen und Heucheleien des medicinischen Gelehrtenstands zu richten und diesen vielfach auf ganz neuen Grundlagen aufzubauen. Aehnlich richtet sich die Demokratie gegen die verrotteten Zustände des Feudalismus und das bequeme Recht des Absolutismus. Wie die Demokratie gewissermaßen die Pathologie, die Lehre von der Krankheit des absolutistischen Staatswesens betreibt, so war Virchow speciell den medicinischen Wissenschaften ein Lehrer und Bekämpfer ihrer Krankheiten. Es ist interessant genug, daß Virchow später diese beiden Richtungen in sich vereinigte und, wie ein großer Demokrat der Wissenschaft, so auch ein bedeutender Demokrat der Politik wurde.
Schon 1848 zeigte sich diese Vereinigung. Virchow gründete ein neues Journal: „die medicinische Reform“, in der die demokratischen Tendenzen stark genug zu Tage traten, um der Reaction von 1849 Veranlassung zu geben, es zu unterdrücken. Doch auch außerhalb der Presse kämpfte Virchow für die politische Sache. Mit seiner fertigen Rednergabe wirkte er von der Tribüne herab, und zwar, da er ein Mandat zur Nationalversammlung ablehnen mußte, weil er noch nicht dreißig Jahr alt war, gründete er mit einflußreichen Freunden zusammen den seiner Zeit sehr bedeutenden Bezirksverein der Friedrich-Wilhelmstadt. Später trat er als dessen Vertreter in den Berliner Centralbezirksverein und nach Auflösung der Nationalversammlung präsidirte er als Mitglied des Centralwahlcomités der volksthümlichen Partei den stürmischen Sitzungen des dritten Berliner Wahlkreises.
Wie nun die Reaction regierte, suchte sie ihre kleinliche Rache auch an dem demokratischen Prosector der Charité zu üben. Man unterdrückte, wie gesagt, sein Journal und setzte ihn überdies ab. Aber diesmal siegte denn doch die Macht des Wissens über die Bornirtheit der Gewalt. Die ärztlichen Vereine Berlins drangen auf Wiederanstellung eines so hervorragenden Anatomen und Pathologen wie Virchow, und das Ministerium mußte zuletzt nachgeben. Indessen rächte es sich doch insoweit, daß diese Wiederanstellung widerruflich und mit Verlust der freien Station erfolgte.
Virchow hatte inzwischen von der Universität Würzburg als Professor der pathologischen Anatomie einen Ruf erhalten und sah keinen Grund, in einer seinen Verdiensten unwürdigen Stellung zu Berlin zu bleiben. So nahm er hier seinen Abschied und ging nach Würzburg. Aber das baierische Ministerium hatte gehört, daß der neue Professor ein Demokrat sei, und deshalb verweigerte es ihm die Bestätigung. Es mußte erst die ganze Facultät und der Senat auf Bestätigung ihres Rufes dringen, ehe dieselbe endlich erfolgte. Bei seinem Abschied von Berlin veröffentlichte er die berühmte Abhandlung über die „Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin“ (September 1849), in der gewissermaßen die Idee, welche die Demokratie jener Tage aus dem Sturm der Revolution für eine zukünftige Entwicklung mit fort trug, in medicinischer Gewandung ausgedrückt war.
Würzburg hatte Virchow’s Berufung nicht zu beklagen; die Universität kam zu neuem Flor, und mehrere Hundert Schüler, darunter 200 bis 300 Ausländer, sammelte dort sein gelehrter Ruf. Virchow arbeitete in dem nun folgenden Jahrzehnt mit einer erstaunlichen Energie auf sein Ziel der medicinischen Reform hin; es war die Epoche der politischen Apathie, die er mit den höchsten wissenschaftlichen Leistungen ausfüllte. Wir müssen uns hier mit kurzen Andeutungen derselben begnügen. Virchow gründete zunächst die zu hohem Ansehen gekommene Gesellschaft für Medicin und Naturwissenschaft, deren Präsident er später wurde; er übernahm neben seinem „Archiv“ noch einen Theil der Redaction des berühmten Canstatt’schen Jahresberichts über die Fortschritte der Medicin in allen Ländern. Wie einst die Ursachen des Hungertyphus in Oberschlesien, untersuchte er 1852 auf Wunsch der bayrischen Regierung den Typhus im Spessart und veröffentlichte seine geistvollen Beobachtungen in einer besonderen Schrift; wir fügen gleich bei, daß er 1859 eine eben solche Mission für Norwegen erhielt. Im Jahre 1856 erschienen seine „gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin“, in denen bereits die große Entdeckung angedeutet liegt, welche Virchow’s mikroskopische Forschungen an den organischen Körpern bewirkte und die für die moderne Medicin eine wirklich neue Aera eröffnete. In späteren Vorlesungen erst gab Virchow seinen erstaunten Zuhörern als Beweise, was so lange in ihm als Ahnung gelegen: es war seine aus mühsamsten Eigenuntersuchungen hervorgegangen Cellularpathologie, in welcher als Grundform der gesammten organischen Welt die Zelle, und in deren Beschaffenheit, Störung oder Verletzung nunmehr die erste Ursache alles Krankseins und aller Abnormität hingestellt wurde. „Das Wesen der Krankheit ist die veränderte Zelle“, das war der kühne und viel befehdete Satz, zu dem sich Virchow’s Schlüsse in seinem weitberühmten Werke: „Die Cellularpathologie in ihrer Anwendung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ gipfelten.
Virchow, von den Akademien zu Paris und London mit hohen Auszeichnungen beehrt, hatte mittlerweile von den verschiedenen Berufungen, die an ihn ergingen, die nach Berlin angenommen. Im Jahre 1856 kehrte er hierher zurück, und die auf ihrer Höhe stehende Reaction mußte wohl oder übel dem berühmten Gelehrten eine seiner Bestrebungen würdige Stellung geben. Die Wissenschaft triumphirte hier abermals über die Parteifanatismen, denn die Berliner medicinische Facultät unter specieller Mitwirkung von Johannes Müller hatte diese Rückberufung Virchow’s durchgesetzt. Man gab ihm nun nicht nur eine Professur, sondern ernannte ihn
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_748.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)