Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 333 | |
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an Pläne, die ich entworfen hatte. Darauf fügt es der Zufall, daß ich ich sie drei Tage lang nicht sehe, schließlich mache ich meinen Besuch und werde mit allen Zeichen von Ungeduld empfangen. Sie ist sehr blaß, aber wir lachen einander zu. Nun komme ich mir gesund und fröhlich vor und bin geneigt, sie für schwächlich und empfindsam anzusehen. Ich ertappe mich dabei, daß mir ihr Gang, ihr Haar nicht mehr so gut wie früher gefallen. Das ist wohl nur ein vorübergehender Irrtum, denn mir scheint für Augenblicke sogar das Vertraute fremd zu sein, da ich allzusehr auf ihre Bewegungen achte. Jetzt kommt sie wieder unter Leute, denn ihre Gesundheit ist zurückgekehrt. Die Bekannten scheinen ihr nicht mehr verlassenswert zu sein, sie wird jedoch auch nicht durch Fragen oder Bemerkungen gequält. Offenbar haben beide Teile die Episode der Trennung vergessen, mich aber läßt das Gedächtnis nicht im Stich. Alles hatte sich wirklich zugetragen, denn ich glaubte daran; mithin mußte die Erinnerung an sie verblassen. Nun mißtraue ich dem Spiel des Zufalls, das mich nur einmal hat betrügen können. Ich beschließe, mit anderen, denen es ähnlich ergehen muß, Rücksprache zu nehmen. Man beachtet indessen meine Fragen nicht, vielleicht darum, weil sie zu vorsichtig gestellt werden. Einmal spreche ich mich sogar offen darüber aus, finde aber kein Verständnis. Doch gewiß hat auch jene wenigstens eine Ahnung gestreift: beim ersten Auftauchen der Nachricht, nur eine Sekunde lang, im Dämmern des Zweifels. Dann allerdings behielt wieder die Lebende recht, und es fiel nicht schwer, der Gewißheit die frühere Überzeugung preiszugeben. Die alte Vorstellung konnte der neuen nicht standhalten und wurde rasch zerstört, man vergaß, daß man einst besser unterrichtet gewesen war.
Ihr Geburtstag wird in der üblichen Weise gefeiert. Wir sind einen langen Tag beisammen, ungestört, und verbringen ihn außerhalb der Stadt. Wir gehen spazieren; meine Begleiterin läßt ihr Buch fallen, hebt es jedoch wieder auf, ehe ich mich noch bücken kann. Da treffen sich unsere Blicke, während sie sich wieder emporrichtet. Sie sieht mir gelassen ins Gesicht, ohne eine Spur von Verstimmung oder Freude, ohne eine Frage an mich zu stellen, so, als gelte ihr Blick nicht mir. Jetzt erkenne ich jede Einzelheit dieser Gestalt, ich sehe, daß ihre Glieder schlank und kräftig ineinandergefügt sind, und der Atem sie einheitlich hebt und senkt. Aber
Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 333. Die Fackel, Wien 1911, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Fackel_Nr._333.djvu/22&oldid=- (Version vom 31.7.2018)