den Grenzen des Anstandes, thut. Der dem Wirthe gegenübersitzende Heiland giebt zum Dessert sein Hochzeitsgeschenk in einer Fülle des ausgesuchtesten Weines. Das Hôtel, in welchem die Scene vor sich geht, ist zu prächtig in den marmornen Säulen und Treppen, es springen viel zu viel Kellner auf und zu, als daß zum Hochzeitfeste der Wein im Keller für die Tafel gefehlt haben sollte. Strauß und Bruno Bauer könnten aus einem solchen Widerspruche das ganze Wunder anfechten, wollte man sich nicht mit Bretschneider helfen und annehmen, daß es nur an „Lacrymae Christi“ bei dem Dessert gefehlt habe. Hier ist dieser Wein, welcher das Feuer des Vesuvs mit der Gluth der Sonne und so Himmel und Hölle vermählt hat. Hier ist die Hochzeitsgabe des armen Propheten von Nazareth! Sie ist da in Menge wie Wasser, als wäre in diesem Hôtel nicht zum ersten Male das Wasser zu Wein geworden.
Aber darf auch in einem Polizeistaate, wie Venedig, ein Wunder geschehen? Das Unglück will es, daß der Wirth aus besonderer Rücksicht den Ober-Mauth-Director zur Hochzeit eingeladen hat. Da steht der Douanenteufel in schwefelgelbem, rothgestreiften Gewande, die Rockschöße in den Leibgürtel gesteckt, in Vorahnung der modernen Frackzeit, die linke Hand mit der Kelchschale voll unveraccisirten Weines ausgestreckend und mit verteufeltem Gesichte das corpus delicti anstierend; er wälzt noch im Munde die Weinprobe und das verhängnißvolle
Julius Mosen: Die Dresdener Gemälde-Galerie. Arnoldische Buchhandlung, Dresden und Leipzig 1844, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Dresdener_Gem%C3%A4lde-Galerie_(Mosen).pdf/66&oldid=- (Version vom 31.7.2018)