kennt die Wollust der Liebe, er hat ihren Kelch bis auf die Hefe ausgetrunken; schon beginnt die Linie der Jugend in den Conturen ihres Gesichtes verrätherisch von der Wellenform sich zurückzusenken. So hat diese Herodias Alles im Hofleben verloren – Jugend, Schönheit, Unschuld und das gute Gewissen; ihr ist nicht einmal die Reue, nur das Entsetzen und Grauen vor sich selbst übriggeblieben.
Sie trägt um die runde, entschlossene Stirne, welche nicht mehr erröthet, eine Ferroniere mit einem Rubin in der Mitte, welcher darauf wie ein heller Blutstropfen steht. Ihre dunkelblonden Haare rollen in kurzgeringelten Locken wie grimmige Nattern um Schulter und Nacken. Sie ist die männermordende Medusa jener Zeit. Sie trägt eine doppelte Gnadenkette zur Anerkennung ihrer verschwiegenen Hofverdienste, ein schwarzes Schnürchen mit feindurchflochtenen Drahtkügelchen, welche wie kleine Grillen aussehen, um den Hals, und am Ende der reichgestickten Einfassung des Gewandes zwischen dem Busen eine große Perle. Der Hintergrund des Bildes ist ein dunkelrother Vorhang. Was mag dahinter stehen? Vielleicht der Mann der Zukunft mit dem Schwerte.
Ein Gesicht aus derselben Zeit tritt uns entgegen im
Julius Mosen: Die Dresdener Gemälde-Galerie. Arnoldische Buchhandlung, Dresden und Leipzig 1844, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Dresdener_Gem%C3%A4lde-Galerie_(Mosen).pdf/20&oldid=- (Version vom 31.7.2018)