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Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/368

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sie von Savigny her gewohnt sind, unzugänglich. Auch sogar auf dem Gebiet des so besonders internationalistischen Materien des Wechselrechtes und des Seerechtes gibt es dafür Beispiele.

Inkommensurabilität verschiedener Rechtsordnungen.

Die Erkenntnis der in dieser Richtung entstehenden Schwierigkeiten, welche mit dem Stichwort Inkommensurabilität der Rechtssätze verschiedener Rechtsordnungen hier nur andeutungsweise bezeichnet werden können, mußte eine doppelte Folge haben, nämlich einerseits den notgedrungenen Verzicht auf die Anwendung solcher inkommensurabler ausländischer Rechtssätze trotz des an und für sich vorhandenen Willens der Rechtsordnung und der Rechtspflegeorgane, dem ausländischen Recht Respekt und Anwendung zu geben – andererseits die Einsicht, daß in solchen Fällen internationale Kollisionsnormen nicht zureichen, sondern internationale Rechtsvereinheitlichung nötig ist, um Rechtssicherheit im internationalen Verkehr zu erzielen. Es hat sich dabei herausgestellt, daß nicht nur im Verhältnis zu Rechtsordnungen wesensungleicher Kulturen (chinesisches, mohammedanisches Recht), sondern auch z. B. im Verhältnis zwischen den europäischkontinentalen Rechtssystemen und dem angloamerikanischen Recht so tiefgehende Inkommensurabilitäten bestehen, daß ihnen weder mit Kollisionsnormen noch mit Rechtsvereinheitlichung beizukommen ist, daß vielmehr weitgreifende Umgestaltungen auf der einen oder der anderen Seite oder auf beiden Seiten der Rechtsvereinheitlichung als prius vorausgehen müßten. Der schon erwähnte Gegensatz zwischen dem europäischkontinentalen (auch heute noch wesentlich römischen oder richtiger romanistischen) und dem englischamerikanischen Recht ist der wichtigste Fall dieser Art. Es wird nicht zu kühn sein, wenn man hier die Annäherung, Ausgleichung und schließliche Lösung der Diskrepanz (teils durch Kollisionsnormen, teils durch Rechtsvereinheitlichung oder Rechtsübereinstimmung) von einer Entwickelung erwartet wird, die auf dem europäischen Kontinent durch das Stichwort Freirechtsbewegung (ich möchte lieber sagen: Rechtsbefreiungsbewegung) in England und Amerika durch die Schaffung moderner Kodifikationen gekennzeichnet werden mag.

Um nochmals zusammenzufassen: Für die heutige Wissenschaft des internationalen Privatrechts bildet das alte Problem der privatrechtlichen Statutenkollision nur den historischen Ausgangspunkt zur Erfassung aller jener Probleme, welche sich historisch, dogmatisch, rechtspolitisch im internationalen Verhältnis der einzelnen staatlichen Rechtsordnungen zueinander darbieten.

Damit ist die Wissenschaft des internationalen Privatrechts als ebenbürtige Schwester der Völkerrechtswissenschaft charakterisiert, ohne deren Hilfe sie ihre höchsten Aufgaben nicht erfüllen kann, während andererseits auch die Völkerrechtswissenschaft auf die Disziplin des internationalen Privatrechts als ihre unentbehrliche Helferin, je länger je mehr angewiesen ist. Die französische Rechtswissenschaft gebraucht demgemäß die Bezeichnungen droit international privé und droit international public im Sinne vollkommener Ranggleichheit. Die in Deutschland übliche Bezeichnung „Völkerrecht“ läßt bei uns eine entsprechende Namengebung nicht aufkommen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/368&oldid=- (Version vom 4.8.2020)