„Da die Bibel keinen Anhalt bietet,“ – schreibt der Gebildete aus dem Volke, - „und dergleichen Gebrauch von Menschenblut nicht zu den altüberlieferten Kultgebräuchen gehört, so scheint es mir, liegt der Aberglaube den Anschauungen nur einzelne Teile des Judentums zu Grunde. Diese werden aber von der Gesamtheit geschützt, was bei dem stark ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl nicht verwunderlich ist.“ – Aber das ist verwunderlich, daß ein „gebildeter Mann“ solchen Unsinn zu schrieben imstande ist. Der hat noch nie etwas davon gehört, daß jüdische Sekten aus Haß die Anklage des Ritualmords gegeneinander erhoben haben, aber die Anklage zu beweisen nicht vermochten; der hat ganz gewiß keine Ahnung von dem furchtbaren Unglück, das durch den Ritualmord-Aberglauben jahrhundertelang über einzelne Juden, jüdische Familien, Eltern und Kinder, jüdische Gemeinden und das ganze Judenvolk nicht bloß durch Vermögensentziehung, sondern durch grausame Todesqualen gekommen ist. Davon weiß er nichts, sonst könnte er unmöglich dem Judenvolke den Wahnwitz aufbürden, daß es in seiner Gesamtheit einen solchen Aberglauben einzelner Juden schützt, obschon derselbe keinen Anhalt in der Bibel findet, und nicht zu den altüberlieferten Kultgebräuchen gehört. „Daß man fast immer,“ – sagt der „Gebildete“, - „jungfräuliche Menschen wählt, erinnert allerdings etwas an die Opfergesetze, nach welchen fehllose, reine Tiere zum Opfer genommen wurden“ – und dabei scheint ihm ganz besonders der Gymnasiast Winter zu Konitz als ein Musterbild jungfräulichen Lebens vor Augen geschwebt zu haben.
„Das Judentum,“ – so schließt das Gutachten, - „hat in seiner Weise eine Macht, die vergleichbar ist mit der mittelalterlichen Kirche mit ihrer Ausbeutung und ihren Inquisitionsmorden; hier hat erst die siegende Wahrheit aus dem Volke im Volke Wandlung geschaffen. Ob es jetzt andere Mittel giebt, weiß ich nicht.“ Und auch noch vieles andere weiß er nicht. Er weiß nichts davon, daß die kirchliche Inquisition keinen einzigen Juden wegen angeblichen Ritualmords verurteilt hat; er weiß nichts davon, daß gerade die mittelalterliche Kirche in einer ganzen Reihe von Päpsten gegen die Ausbeutung der Juden und die Anklagen wegen Ritualmords in die Schranken getreten ist; er scheint nicht einmal von den Hexenprozessen früherer Jahrhunderte etwas zu wissen, denn sonst hätte er den Ritualmord-Aberglauben doch
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/54&oldid=- (Version vom 31.7.2018)