die Juden nicht wüßten, welches unsägliche Unglück und Herzeleid der einzige Ruf „Ritualmord“ schon unzähligemal, besonders in Deutschland, über das ganze Judenvolk gebracht hat. Wenn er nur eine Ahnung davon hätte, würde er es begreifen, wie auch heute noch dieser Ruf „Ritualmord“, wenn er irgendwo erhoben wird, wie ein elektrischer Schlag auf alle Juden wirkt, die es hören, und ihre Herzen in Schrecken und Angst versetzt. Das geschieht aber nicht, weil sie sich des Ritualmords schuldig fühlen, sondern weil sie an die entsetzlichen Wirkungen denken, die der christliche Ritualmord-Aberglaube schon oft hervorgebracht hat. Dabei kann ich übrigens dem H. Pastor den Vorwurf nicht ersparen, daß er sich der nämlichen Unwissenheit, wie in der Geschichte der Ritualmord-Frage, auch in der katholischen Religionslehre schuldig gemacht hat. Wenn er nur einmal einen katholischen Katechismus in der Hand gehabt und die katholische Lehre vom heiligen Meßopfer aufgeschlagen hätte, würde er gefunden haben, daß durch das heilige Meßopfer das Opfer Jesu Christi am Kreuze den Christen lebendig und unblutig vor Augen gestellt werden soll, und die Früchte des Kreuzopfers Jesu Christi den Christen zugewendet werden sollen.
Wie aus diesem „Gutachten“ des H. Pastors hervorgeht, glaubt derselbe nicht an den jüdischen Ritualmord, sondern er hegt bloß den, wie wir gesehen haben, grundlosen Verdacht, daß ein Blutritus in jüdischen Kreisen möglich sei. Eben deswegen hegt er aber auch keine Hoffnung, daß das Gericht, welches durch die Umfrage über den Blutmord nach der Absicht der Staatsbürger-Zeitung über die Juden ergehen sollte, irgend eine Wirkung äußern werde. „Was soll dieses Gericht,“ fragt er, „über Juda? Meint man unsere liberalen Philister aufzuklären? Sie haben ihre ganz eigene Aufklärung. Ja, wenn sie Schwaben wären, dann könnte man mit dem Laufe der Jahre Hoffnung haben.“ – Nach diesem „Gutachten eines hervorragenden Mannes der Wissenschaft und des praktischen Lebens“ sind also und bleiben auch über ihr vierzigstes Lebensjahr hinaus die liberalen Philister zu dumm, als daß sie durch die Umfrage der Staatsbürger-Zeitung über den Blutmord dazu gebracht werden könnten, mittels der Ritualmord-Anklage, die Juden aus dem Deutschen Reiche hinauszutreiben. Die liberalen Philister aber werden sich für diese zarte Schmeichelei bei dem H. Pastor Zeller, und für die Veröffentlichung seines Gutachtens
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/52&oldid=- (Version vom 31.7.2018)