Den Leichenzug eröffnet in Nr. 342 der Staatsbürger-Zeitung der protestantische Pfarrer Baltzer zu Groß-Lerzkow, dessen Leichensprüchlein lautet: „Wenn ich geneigt bin, auf die Frage a mit einem bedingungslosen Ja zu antworten, so muß ich andererseits zugeben, daß ich einen zwingenden Beweis dazu beizubringen nicht vermag.“ – Das ist gewiß bezeichnend für ein wissenschaftliches Gutachten, daß man bedingungslos etwas behauptet, und in demselben Atem gesteht, daß man einen zwingenden Beweis dafür nicht hat. „Meine Überzeugung,“ fügt er dann bei, „kann sich nur darauf stützen, daß gewisse Morde ohne eine solche Annahme schlechthin unerklärlich sind.“ Jawohl! Unerklärlich sind sie für den, der weder die Geschichte der Ritualmord-Frage kennt, noch auch eine aktenmäßige Darstellung der sogenannten Ritualmord-Prozesse der Gegenwart gelesen hat, sondern von der ganzen Sache nur das weiß, was er in antisemitischen Zeitungen davon gelesen hat. Der H. Pfarrer ahnt gar nicht, was für ein Armutszeugnis er sich mit seinem Gutachten ausgestellt hat. Denn es kommt noch schöner. Zur Frage 2a bemerkt nämlich der H. Pfarrer: „Die Beweggründe seitends der Juden könnte ich nur in wütendem Christenhasse suchen. Daß die Juden zur Befriedigung ihrer eigenen religiösen Bedürfnisse Christenblut brauchen, glaube ich nicht, halte es sogar mit den Bestimmungen des Alten Testaments für nicht vereinbar.“ Damit hat aber der H. Pfarrer den jüdischen Ritualmord frischweg geleugnet, und es ist unbegreiflich, wie die Staatsbürger-Zeitung dieses wissenschaftliche Gutachten in ihre Spalten aufnehmen konnte. Denn unter Ritualmord versteht man die Tötung eines Menschen zu dem Zwecke, um dessen Blut zu rituellen oder religiösen Zwecken zu gebrauchen. Daß die Juden aus wütendem Christenhasse im Laufe der Jahrhunderte eine große Menge von Christen getötet haben, ist eben so wahr wie die andere Thatsache, daß noch viel mehr Juden von den Christen aus wütendem Judenhasse ermordet wurden, ohne daß man dabei an einen Ritualmord dachte. Das weiß jeder, der nur einen flüchtigen Blick in die Geschichte geworfen hat. Zur Frage 2b sagt H. Baltzer: „Ja, wer dagegen ein Mittel wüßte? Wachsamkeit, Augen aufmachen, weg mit aller dummen Vertrauensseligkeit! Es thut mir leid, Ihnen nicht mit mehr dienen zu können, aber man soll in solchen Dingen nichts sagen, was nicht zu beweisen ist. Ich
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/50&oldid=- (Version vom 31.7.2018)