Selbst dann nun aber, wenn ich meinem Schädiger eine gewisse „Bewusstheit der Schadenszufügung” nachweisen könnte, so böte ihm, in der Vorinstanz wie in der Vollstreckungsinstanz, das bürgerliche Gesetzbuch genug Handhaben, um der Verurteilung nach § 906 zu entgehen. Er kann sich auf Selbsthilfe, gesetzliche Befugnis, gewerbliche Konzessionen berufen. Viele Paragraphen lassen sich zu seinen Gunsten wenden, zumal 906, dann 907-923; ferner 229-231, auch 227, 228 usw. Zur Not wird er den Einwand des eigenen Verschuldens nach § 254 vorbringen können. Er wird sagen, dass ich bei der von der Verwaltungsbehörde nach § 17 G.O. in dem der Konzessionserteilung vorangehenden Administrationsverfahren, zur öffentlichen Kenntnis gebrachten Genehmigung der „lärmzuführenden Anlage“ auf einen mir drohenden Schaden ja „rechtzeitig aufmerksam gemacht worden sei”; damals aber sei kein Einspruch von mir oder sonst wem erhoben worden. Schliesslich vermag er auch die nach § 906 versuchte Klage auf § 826, „illoyale Schadenszufügung” überzuwälzen, wonach er, da ihm keine, Schikane” nachweisbar ist, kaum verurteilt werden kann. Kurz die dingliche Störungsklage wider den Lärm ist so gut wie vollkommen aussichtslos…
Wie aber steht es mit einer „deliktischen Schadenersatzklage”? Auch hierbei wird in der Regel gar nichts herauskommen! Man braucht nur die in der juristischen Literatur vorliegenden Erläuterungen zu § 26 G.O. durchzusehen, um sicher zu wissen, daß man mit einem so subtilen, ungewohnten Klagegegenstand, wie es die Schädigung durch Lärm ist, nichts als ein mitleidiges Achselzucken oder ein Lächeln der Schadenfreude von Seiten der Richter einernten wird. Da heißt es z. B.: „der Beschuldigte ist ausschliesslich verpflichtet, solche Handlungen vorzunehmen, die von jedem vernünftigen und redlichen Menschen zum Schutze des eigenen oder fremden Lebens, Gesundheit oder unter Umständen auch wertvoller Güter in der gegebenen Lage nach den gewöhnlichen und gesunden Verkehrsanschauungen erwartet werden”[1]. So viele Worte, so viele Phrase!! Man sage nur klipp und klar, ob die normale Arbeitskraft meines Gehirns für Deutschland ein minder wertvolles Gut ist, als die Saugpumpe im Hofe eines Schnapsbrenners. Man sage mir, wie denn „gewöhnliche und gesunde Verkehrsanschauungen“ eigentlich aussehen, wie der „vernünftige und redliche Mensch” eigentlich beschaffen ist. Auch sollte man doch bedenken, dass das, womit der Mensch „fremdes” Leben vernichtet, nahezu immer zur Hebung seines eigenen Lebens unternommen wird…
- ↑ Hierzu 823 B.G.B.; § 303 ff., St.G.B; auch 826 B.G.B
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/88&oldid=- (Version vom 31.7.2018)