so kann auch das Menschengeschlecht als Ganzes eine dauernde Gewusstheit des Lebens nicht ertragen. Dieses Leben würde aufgebraucht, würde in all seinen Energieen von der geistigen Aktivität erschöpft werden, wenn die Entwickelung zu Vernunft und Denken hin nicht durch jene ganz andersartigen „irrationalen” Seelenmächte hemmend reguliert würde.… Wie nach der Vorstellung der heutigen Physik alle kosmischen Energien sich in eine einzige Energieform umsetzen, nämlich in die Form der Wärme, um in dieser schliesslich zum Aufbrauch, ja zum erstarrten Stillstand der Lebensbewegung, zur sogenannten „Entropie“ des Kosmos zu führen, – so scheinen auch alle Regungen der Seele zuletzt in eine einzige Energie zu münden, nämlich in die intellektuelle Energie, d. h. in die Form der „Bewusstheit”, um in ihr zur Ruhe zu kommen. Somit aber wird der „Geist” zum nagenden und zerstörenden Parasiten des „Lebens”. Die bewusste Regelung der Lebensfunktionen unterbindet und verbraucht die Energie zahlloser instinktiver, reflektorischer Fähigkeiten, durch die das Tier oder der „Naturmensch” dem „höheren“ Menschen überlegen ist. Die unermessliche Mehrung und Verfeinerung jener wunderlichen Gebilde der grauen Hirnrinde, an die die Fähigkeit des wissenden Denkens geknüpft zu sein scheint, – sie erfolgt nur auf Kosten des Grosshirns und Rückenmarks. So bedroht der Fortschritt menschlicher Weltbewusstheit die Lebenskraft, die diesen Fortschritt tragen muss. So scheint unser Aufstieg zur Geisteskultur zugleich Abstieg des „Lebens” zu werden. So umdüstert die Ideale der gepriesenen „Entwickelung” der wachsende Schatten der Dekadence, der Depopulation, oder mindestens doch einer vitalen Schwächung und physischen Minderung des Menschengeschlechts.
Hier aber greifen jene anders gearteten Lebensmächte steuernd und konservierend in das Getriebe aller vorwärts peitschender Gewalten ein. Das, was Nacht und Schlaf unsrer körperlichen Erhaltung leisten, das leisten diese Mächte für die hohe Geistigkeit psychopatisch gefährdeter, komplizierter, später Individuen. Sie sind geistesfeindlich, antilogisch. – Es ist daher berechtigt, dass man sie unter dem Gesichtswinkel „fortschrittlicher Ethik” als „reaktionär” und „konservativ” zu kennzeichnen versucht. Aber von einer anderen Seite aus gesehen, verwalten gerade sie die „Heilkraft der Natur” und erscheinen unentbehrlich und tief notwendig. Auch erweisen sie sich als in der letzten Tiefe der Seele verwurzelt. Und das am meisten bei jenen zahllosen Menschen, die bei einem Übermass rationeller Momente der Lebensführung in ihrem Weltgefühl oder in ihren Idealen gleichsam vor sich selber davonlaufen.
Welches sind denn nun diese antirationalen, das Bewusstsein „retardierenden Lebensgewalten”? Es dürfte ohne weiteres klar sein, dass sie nur im konservativsten Element der Seele, im „Gefühle”
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)