machte aber in der Regel die Erfahrung, dass die Infektion schon im frühen Kindesalter zu erfolgen pflegte. Vor allem schien das Alter zwischen drittem und siebentem Lebensjahr den Gefahren der Infektionskrankheiten hervorragend ausgesetzt zu sein… Man rufe sich das Bild unserer frühen Kindheit vor die Seele, dieser Kindheit, durch die wir uns unbegreiflicherweise hindurchrangen, als eines von Millionen überflüssiger Grossstadtkinder, zwischen Fabrikschloten und Maschinenlärm, in dem mit Menschen überfüllten Wohnhaus, mitten im Staub des Geschäftslebens, wo wir kein Himmelsblau und keine Blume sahen und unsere ersten Welteindrücke empfingen. Wir krochen, unbehilflich, ohne dass jemand darauf achtete, auf dem Fussboden umher, auf Trottoiren und Treppenstiegen. Immer hatten wir schmutzige Händchen. Immer brachten wir sie mit allem in Berührung, was ins Bereich unserer ahnungslosen Neugierde kam. An allem wurde getastet, geleckt, gerochen. Und alles war überdeckt mit dem Auswurf und Staub kranker, leidender Leute. Überall schluckten die kleinen Organe grossstädtischen Schmutz; Schweiss und Dunst der Betten, die in dem ummauerten, gepflasterten Hofe auf unserem „Turnreck” geklopft wurden, während wir die klopfende Magd umspielten. Exkrete, Evaporationen ungesunder alter Menschen, die aus den zahllosen Teppichen, aus oft seit Jahren nicht gereinigten Polsterstücken hervorbrachen, die vor der Flurtür mitten im Treppenhause ausgestaubt wurden. Und wenn wir zum ersten Male die endlose Stiege hinaufkletterten und die kleinen Lungen von der Pein dieser Leistung keuchten, dann kam aus dem stets ungelüfteten Treppenhause ein mächtiger Staubschwaden in unsere Kehle, wurde niedergeschluckt und brachte vielleicht die Keime zu langem Siechtum in die kindliche Blutbahn… Wie oft hat nicht die Morgenmilch oder die Mittagssuppe auf dem Küchenbalkon zum Abkühlen im offenen Topfe gestanden, während drunten auf dem Hof ein fremdes Bett geklopft wurde. Wie oft trocknete nicht unsere Kinderwäsche auf dem Balkon des Hinterhauses in der Sonne, während aus dem Fenster darüber ein Bettstück ausgeschüttelt wurde. Und wehe, wenn in dem Bettstück ein Krebskranker, ein Tuberkulöser, ein mit Diphtherie oder Masern behaftetes Nachbarkind gelegen hatte. Dann entstand wieder eine jener Infektionen, bei denen jeder sich verwunderte, wie nur der Junge, den man sorglich behütet und von dem Verkehr mit Nachbarkindern abgehalten hat, plötzlich eine Übertragungskrankheit ins Haus bringt. Diese ganze Absperrungshygiene nützt ja nichts. Wir sehen täglich, dass es einfachere Wege gibt, auf denen Infektionskrankheiten über Kinder kommen, durch die tausende dahingerafft, andere tausende mit unerklärlichem, dauernden Siechtum geschlagen werden. Mag der Magen auch imstande sein, täglich zahllose Krankheitserreger, die mit der Nahrung aufgenommen werden, zu vernichten, niemand soll darum wähnen, dass es für kleine
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)