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Seite:Der Lärm.pdf/53

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Sicherheit überfahren und durch Nasenkrankheiten, Gehirnhautentzündungen oder „Neurosen” dezimiert wird, falls er sich zu häufig ins Zentrum einer Grossstadt begibt. – Um Mitte des 19. Jahrhunderts traten medizinische Autoritäten mit der Behauptung hervor, dass die Gesundheit des Menschen die allgemeine Einführung der Eisenbahnen nicht überleben werde. Der Kohlenstaub und der Lärm werde ihre Degeneration herbeiführen. Ja, der Mensch, der viele Tage hintereinander auf der Eisenbahn lebe, werde durch Nervenerschütterung oder im Irrwahn zugrunde gehen. Die Zunahme der Irrenhausbevölkerung werde von den Folgen des Eisenbahnfiebers zeugen. – Aber die Menschheit hat die Eisenbahn überlebt; sie wird auch das Automobil überleben. Das Problem der künftigen Entwickelung wird nur dies sein, wie die weitere Differenzierung unseres feinsten, geistigsten Sinnes mit der kontinuierlichen, gewohnheitsmässigen Abstumpfung der bewussten Wahrnehmung zusammengehen kann. Denn die verfeinerte Fähigkeit der Gehörswahrnehmung ist ebenso notwendig geworden, wie die dauernde Faktizität verfeinerten Wahrnehmens und Aufmerkens für uns bedrohlich ist. Man muss also die Kunst erlernen, alles zwar hören zu können, aber wo nicht nottut, doch faktisch nicht hinzuhören.… Am besten kommt in der Welt vorwärts, wer viel Geräusch und Gestank aushalten und vollführen kann. – Ich kann also nur hoffen, dass die gegenwärtige Ära des Automobilsports das auf den 800pfündigen Kraftbolzen eingestellte differenzierte Töff-Töff-Ohr und eine dazu gehörige immune Benzinnase meinen Kindern und Enkeln hinterlassen wird.…

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4.[WS 1]

On entre, on crie
Et c’est la vie.
On crie, on sort
Et c’est la mort.

Das Geräusch, von dem ich nunmehr sprechen will, ist ebenso störend und peinigend wie alle anderen. Aber es wird von den wenigsten Menschen als störend empfunden und als peinigend anerkannt… Vor sechs Jahren veröffentlichte ich einige Aufsätze gegen den Lärm, die unter den perhorreszierten Geräuschen auch das Tag und Nacht andauernde Geläute von Kirchenglocken, (zumal in den katholischen Ländern) zum Gegenstand eines Angriffes machten. Das erregte Missfallen und Widerspruch. Ein Wiener Journal entgegnete, das Läuten der Glocken sei „Musik”; auch entspräche es berechtigter Tradition, die die Heiligung unsres praktischen Lebens verwalte. Wenn ich nun trotz dieses Widerspruchs meine Auffassung auch heute wiederhole,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. ein mit ”3.” bezeichneter Abschnitt ist nicht vorhanden.
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/53&oldid=- (Version vom 31.7.2018)