Viertes Kapitel.
Geräusche.
Wohltuend ist für jedermann,
Wofern er sich entrüsten kann.
Wo soll ich beginnen? Welche aus alle den quälenden Lärmgewalten zuerst herausheben? – Schnell verbrauchte Bevölkerungen atmen und sterben im Getobe unermesslich anschwellender Riesenstädte. Atmen im Dunst und Gestank der Fabriken, im Abhub der Trottoire, im Staube ihrer kleinen Wohnungen; in der grässlichen Atmosphäre von Russ, Rauch und Schmutz, die über den Städten liegt. Hunderttausende, überarbeitet, überlastet, übermüdet! Auf engstem Raum in die riesigen, sonnenlosen steinernen Kästen gesperrt, wo sie leben und sich betäuben, streiten und Kinder zeugen; immer neue Hunderttausende; Sklaven der Geräte, Besitztümer und Institutionen. In der grauenhaften Eigenbrödelei der Einzelkochwirtschaft und Einzelhauswirtschaft, ein jedes streng auf sein „Eigentum” erpicht und eben darum beständig zusammenhockend und einander in den Ohren liegend. Ach, so hässlich an Gestalt und Gesicht! Recht eigentlich verunstaltet, deformiert, unnatürlich, verkümmert, ungesund! So leben sie am Leben vorüber, ruhelos einander den Kampf erschwerend, einer auf des anderen Nervenklaviatur spielend, roh, primitiv, abgeschmackt, zwecklos. Nicht bösartig, aber töricht und urteilslos. Nicht verantwortlich und frei, aber unschön und stumpf. Wie könnten denn auch wir in unserer Mischung von fordernder Sinnengier und bedürftigem Aberglauben des Lärmes entbehren? Er ist uns ein grosser Segen, denn – er betäubt. Er lässt uns nicht zum Bewusstsein unsrer selbst kommen, nicht zum Bewusstsein all dieser Armut, all dieser Armseligkeit…
Aus diesem Gelärme will ich zunächst das niederträchtige, überflüssige Peitschenknallen denunzieren, über dessen Schändlichkeit
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)