Kompliziertere später zur Reife kommt als das minder Komplizierte, so kommt auch das Gehör zugleich mit der Sprache erst dann zu seiner vollen Entwickelung, wenn jede andere sinnliche Reaktionsfähigkeit schon auf ihrem Gipfel angelangt ist. Auch lässt in der Regel im Prozesse des Alterns die Kraft des Auges früher wieder nach, als die des Ohres… Wir empfinden jedoch die von uns beständig perzipierten Geräusche unserer Umgebung schliesslich nicht mehr als Hemmung und somit auch nicht als gegenständliche Gegebenheit, weil sie für das gewohnte Leben keine Gefahr und eben darum keinen Ansporn zu apperzeptivem Aufmerken in sich schliessen. Gleichwohl sind diese Geräusche doch beständig da. Sie üben beständig ihren bohrenden, unterminierenden, kraftverbrauchenden Einfluss. Man könnte sie etwa mit dem Druck der uns umgebenden Atmosphäre vergleichen, der auch nicht bemerkt und niemals störend empfunden wird, zweifellos aber zu seiner Überwindung ein bestimmtes Kraftmass in unserem Lebenshaushalte, ein bestimmtes Mass vitaler Energieen dauernd in Anspruch nimmt. Ich möchte vermuten, dass mancherlei allgemeine physiologische „Dispositionen”, die wir als Organgefühl, Gemeingefühl, Stimmung und dergl. ansprechen, auf Konto dieses uns unbewussten Perzeptionszwanges zu setzen seien. Zumal der Grosstädter empfindet häufig dunkles Unbehagen, Erschöpfung oder nagendes Ermüdetsein, dessen Quell ihm erst klar wird, wenn die Aufmerksamkeit zufällig auf Geräusche der Umgebung fällt, deren Einwirkung vielleicht schon Tage und Monate von den Nerven ertragen wurde, ohne dass diese Störung irgendwie bemerkt worden wäre. Ja, es geschieht beständig, dass die schädigende Wirkung von Geräuschen uns erst bewusst wird, nachdem sie zu wirken aufgehört haben, während doch in jedem anderen Sinnesgebiet das Geltendmachen von „Schmerz“ das unmittelbare Dasein biologischer Schädigung anzeigt[1].
Wir arbeiten somit scheinbar ungestört unter dem Einflusse ferner Flintenschüsse oder Trommelwirbel, rammelnder Handwerker oder klappernder Schreibmaschinen, so wie der Schmied das Dröhnen seiner Hämmer, der Uhrmacher seine Uhren und der Müller das Schlagen seiner Räder nicht mehr wahrnimmt. Aber sobald einmal Stillstand im Geräusche eintritt, beginnen „die Ohren zu summen“. Es beginnt sich die aufstachelnde Wirkung des Geräusches nachträglich an seinen Folgen zu zeigen. – Man hat an fast allen Arbeitern, die lange in
- ↑ Erst in jüngster Zeit ist uns gelungen, die Arbeit zu messen, die ein perzipierter Ton auf das Trommelfell ausübt. Es wurde gefunden, dass bei einem sehr lauten Ton diese Arbeit etwa ein tausendstel Erg beträgt, dass man aber auch bei einem milliontel Erg noch deutliche Tonempfindungen hat.
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)