Ruhe, die über dem ganzen Leben wahrhaft gebildeter Menschen liegt. Man glaube ja nicht, dass jene grobe Beobachtung richtig ist, die den vornehmen Asiaten phlegmatisch und apathisch schilt. Plötzliche, unerwartete Ausbrüche lange aufgestauter und niedergezwungener Fanatismen widerlegen diese Zumutung. Der Asiat ist kraftvoll und leidenschaftlich; aber zugleich innerlich disziplinierter und gebundener als die jungen europäischen Völker im Durchschnitt zu sein pflegen. Darum schwebt über dem Leben später Buddhisten die Weihe stummer Würde und Ehrfürchtigkeit. In ihr dokumentiert sich jene überlegene Rationalisierung des Trieblebens, die der Mensch nur der Schule der Not, nur einem langen, geschlechterlangen Leiden danken kann. – Diese „Überlegenheit der Intellektualisierung des Trieblebens” äussert sich aber auch in der ungleichen seelischen Anlage der Geschlechter. Die Frau ist immer und überall „rationaler” als der Mann. Der psychologische Unterschied des weiblichen und des männlichen Vertreters des selben Typus läuft allemal auf ungleiche intellektuale Bindung psychischer Energieen hinaus. Diese ungemein wichtige psychologische Wahrheit habe ich seit vielen Jahren in Schriften und Vorträgen vertreten. Aber ich bezeichne als „Rationalität des psychischen Erlebens” keineswegs objektive Bewusstseinsinhalte. Ich meine nicht irgendwelche faktischen Kenntnisse und Bildungsmomente, noch auch etwa Übung in den Funktionen bewussten Denkens. Die Frau hat lediglich eine ältere und höhere Seelenkultur. Sie verdankt sie der langen Hemmung ihrer äusseren Kraftentfaltung. Sie dokumentiert sich in der zweckvolleren Ökonomik der Lebenskräfte, in der grösseren Selbstbeherrschung und Tragfähigkeit weiblicher Naturen. Eben diese schweigende Überwindung des Lebens aber gibt dem Menschen seine besondersartige, menschliche Würde. Sie ist das Ziel aller Erziehung und der seelische Gewinn aller Kultur. Denn Erziehung ist Erziehung zum Schweigen. Und Kultur lehrt das „Leiden ohne Klage”. Der wohlerzogene kultivierte Mensch wird sich (ganz gleich welcher inhaltlichen, objektiven, materialen Kultur er angehöre und auf welcher Kenntnis- und Bildungsstufe er verharre) immer und überall durch Schweigen und durch Feindschaft gegen undisziplinierte, laute Lebenshaltung auszeichnen.
Kultur ist Entwickelung zum Schweigen! – Selige Ruhe liegt über allem Vollendeten. In keusche Stille sind alle grossen Werke der Menschheit gehüllt von hehrer Lautlosigkeit durchtränkt. Dieses hängt damit zusammen, dass alles was im Bereiche zweifellosen Wertes liegt, jenseits des Kampfes stehen muss, dessen ureigenstes Stigma Lärm und Lautheit ist. In der „Welt des Zweifellosen” gibt es keinen Streit.
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)