notwendige Kraftentspannung und das Bedürfnis nach aktiver Machtbetätigung und Selbstbewährung. – Solche Aktivitätssteigerung und Selbsterweiterung muss schliesslich in jeder „Ausdrucksbewegung“ aufzufinden sein. Sie kann daher nicht die spezifische Psychologie des Schreiens und Lärmens erläutern. Wichtig dagegen ist dies, dass wir im Lärm nicht ein zufälliges Akzidenz des „gesteigerten Verkehrslebens“, nicht ein bloss zeitgeschichtliches Symptom der Unrast und Heimatlosigkeit moderner Seele zu betrachten glauben, sondern den Ausdruck unausrottbaren, allmenschlichen Triebes. Diesen „Trieb“ zum Lärme kann man nicht mit polizeilichen Vorschriften und staatlichen Massregeln ausmerzen. Denn gesetzt, es würden künftig immer neue Mittel gefunden, um das Leben in seinen äusseren Ausdrucksformen relativ geräuschlos zu machen; gesetzt man würde Patente erteilen auf Vorrichtungen, die ermöglichen, Polstermöbel und Teppiche geräuschlos zu klopfen; gesetzt das Gros der Kulturmenschen wäre nachgerade so musikalisch geworden, dass es ihm genügte, Partituren zu lesen; gesetzt endlich man würde gar den Vorschlag jenes Biologen befolgen, der anempfahl die künstliche Stummheit der Haustiere heranzubilden, „indem man immer wieder den Rekurrensnerven durchschneidet, um durch Auslese lautlose Lebewesen hervorzubringen“; gesetzt auch dies, dass man die sorglichsten Vorschriften zur Vermeidung des Strassenlärms besässe und alle des täglichen Gerassels der elektrischen Bahnen, Dampfbahnen, Motorwagen, Automobile, – es würde dennoch eine grosse Anzahl lärmfreudiger Leute sich über all diese Sicherungen gefährdeter Nerven mit Lust hinwegsetzen! Sie würden ihre Teppiche lieber geräuschvoll klopfen! Würden lieber mit der Peitsche knallen; würden viel zu entbehren glauben, wenn sie nicht ihren Geschäften mit Singen, Pfeifen und beständigem Geschrei nachgehen könnten. Sie würden Stöcke und Schirme geflissentlich gegen Stakete und Gitter rasseln lassen oder mit Säbel und Sporen stolz über den Marktplatz klappern, auch wenn alle das wohl entbehrlich und gar leicht vermeidbar wäre. Ein merkwürdiger, unbezähmbarer Impuls steht also dahinter, ein „Urtrieb“, in dem der lustvolle, positive Charakter des Lärmens fundiert liegt. Er reiht sich jenen zahllosen allmenschlichen Neigungen ein, die die „Bewusstseinsnarkose”, d. h. die beständige Übertäubung des stummen, bewusst denkenden Geistes und somit den fortwährenden Traum- und Rauschzustand des Gesellschaftslebens unterhalten. …
In primitiver, trüber und noch roher Sphäre haben wir hier ganz die selbe Ressource, die selbe Schutz- und Bremsvorrichtung der Lebensfähigkeit vor Augen, die (wie wir vorhin betonten), auch der
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/11&oldid=- (Version vom 31.7.2018)