Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492 | |
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melden Sie Herrn Rat Scheller das Vorgefallene und auch, daß ich mich sofort an den Tatort begebe …“ Der Schutzmann machte kurz kehrt und auch der „alte Kunde“ wurde schnell entlassen. – Kriminalkommissar Richter, eine große, kräftige Erscheinung mit energischem Gesicht, schloß eilig die Fächer seines Schreibtisches ab und zog sich den Paletot an. Dann trat er an das Fenster und schaute hinaus. „Der Regen hat aufgehört,“ murmelte er vor sich hin. Und, sein Selbstgespräch fortsetzend … „Friedrichs – Friedrichs …? den müßte ich doch kennen? … ja, richtig!“ Und an den Kleiderständer tretend, stülpte er sich den Hut auf.
Die Tür wurde geöffnet und herein trat, zum Ausgehen fertig, ein anscheinend noch ziemlich jugendlicher Herr, dessen blasses Gesicht auf der linken Wange verschiedene auffallend rote Schmißnarben zeigte. Es war der frühere Referendar Dr. jur. Fritz Werres, jetzt Hilfsarbeiter bei der Kriminalabteilung des Polizeipräsidiums zu X. – Werres hatte vor einem Jahr kurz hintereinander beide Eltern verloren, und, da er kein Privatvermögen besaß, den Justizdienst quittieren müssen. Zur Kriminalpolizei hatte ihn nur seine Neigung geführt; er hatte verschiedene günstige Angebote von Bankinstituten und Versicherungsgesellschaften, die ihn von Anfang an sogar besolden wollten, ausgeschlagen, weil er sich für nichts so befähigt hielt, wie gerade für den Beruf der Kriminalisten. Und daß er sich in dieser Hinsicht nicht selbst getäuscht hatte, bewies dieses eine Jahr seiner Tätigkeit bei der Kriminalabteilung. Er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten einen ganz außergewöhnlichen Scharfsinn bewiesen, den der Kriminalkommissar Richter allerdings nur dem Umstande zuschrieb, daß gerade ihm die Ausbildung des jungen Doktor übertragen war.
„Na, was sagen Sie dazu?“ rief Richter dem Eintretenden entgegen. „Wieder Arbeit für uns, daher habe ich Sie rufen lassen!“
„Ich danke Ihnen, Herr Kommissar,“ sagte Werres ziemlich kühl, indem er sich den Paletot zuknöpfte. Dann fragte er ganz unvermittelt:
„Wann traf die Meldung hier bei uns ein?“ – Richter, der im Zimmer auf und ab ging, blieb stehen. „Soeben vor wenigen Minuten,“ antwortete er zerstreut, seine Gedanken schienen ihm bereits an den Tatort vorangeeilt zu sein.
„Und wann war das?“ forschte Werres weiter.
„Wann … na …“ Richter zog die Uhr … „es kann nur einige Minuten nach elf gewesen sein …“
„Also gegen 11 Uhr vormittags am Freitag, den 19. April 19..,“ sagte Werres geschäftsmäßig. Während er noch sprach, hörte man draußen auf dem Korridor schnelle Schritte und in der halb offenstehenden Tür erschien eine untersetzte Gestalt in einfacher Zivilkleidung – der Kriminalbeamte Behrent, dessen rotes, feistes Gesicht vor Eifer förmlich strahlte.
„Gut, daß Sie da sind, Behrent,“ rief der Kriminalkommissar dem Beamten zu – „und nun – vorwärts!“ Die drei verließen das Polizeipräsidium und durchquerten schweigend mehrere Straßen, voran der Kommissar, links neben ihm Behrent und einen guten Schritt hinterher Doktor Werres, der sich ruhig seine Handschuhe aufzog. Nach wenigen Minuten mäßigte der Kommissar das Tempo und drehte sich halb zu Werres zurück.
„Da – das Bankhaus von Friedrichs.“ Richter wies flüchtig auf ein vierstöckiges Gebäude, in dessen Eingang er und Behrent dann eilig verschwanden.
„Wo wollen Sie hin?“ fragte eine aufgeregte Stimme, die aus der schmalen Tür hervortönte. Werres drehte sich um und schaute den Mann, der nun sein Stübchen verließ und sich ihm beinahe mißtrauisch in den Weg stellte, gleichmütig an. Dann, ohne auf die Frage des dicken Portiers zu achten, sagte er sehr kurz und bestimmt: „Führen Sie mich zu dem Privatkontor des Herrn Friedrichs, ich weiß hier nicht Bescheid.“
„Da können Sie jetzt nicht hin,“ meinte der Portier wichtig, und geheimnisvoll setzte er hinzu … „die Polizei ist da …“ – Wahrscheinlich hatte er angenommen, bei dem fremden Herrn mit dieser Nachricht irgendwelchen Eindruck zu machen. Aber er sah sich bitter enttäuscht, denn dieser sagte nur: „Das weiß ich.“
„So …? Na, jedenfalls darf ich keinen reinlassen und auch keinen raus, hat Herr Wendland gesagt, was unser Prokurist ist,“ rief geärgert der Portier und trat noch einen Schritt vor, um diesem so wenig zugänglichen Herrn noch mehr die Passage zu versperren. Dieser Herr sagte weiter kein Wort, sondern knöpfte sich nur seinen Paletot auf und zog auf der innern Brusttasche seines Rockes eine Brieftasche hervor, der er eine Karte entnahm – seine Legitimation. Die Karte hielt er dem Portier hin, ohne sie ihm in die Hand zu geben. Der Portier las darauf nur die Worte – Kriminalabteilung – Polizeipräsident – sah den großen blauen Stempel, als er auch schon mit tiefem Bückling zur Seite trat, die mit einer breiten Goldborte besetzte Mütze abriß und stotternd hervorbrachte: „Bitte, Herr … Kommissar … da … die erste Tür rechts … dann gleich links … ich darf hier nicht fortgehen …“
Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492. Berliner Central-Verlag, Berlin 1908, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Doppelg%C3%A4nger.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)