fünf Jahren des Studiums einer auf Erfahrung, Vergleich und Uebung beruhenden Wissenschaft, weiß man nur, vielleicht sehr viel - doch kann man noch nicht; und das Können macht die großen Aerzte. Leonor hatte jezt bei vierundzwanzig Jahren nur eine ganz, ganz kleine Anstellung von kaum 100 Thalern jährlichen Einkommens bei der medizinischen Klinik an der Universität zu Breslau. Er war zum Weihnachtsfest nach Glatz gekommen um sich von dem Gesundheitszustand seiner Schwester zu überzeugen, die während der letzten sechs Monat zwei bedenkliche Augenentzündungen gehabt hatte.
Es war kein frohes Beisammensein, das der Geschwister! Leonor fühlte sich in den Tod verletzt durch Dorothee's Vorsatz, den die Nothwendigkeit gebot, und Dorothee glaubte ihrerseits mehr gekränkte Eitelkeit des Gelehrten, als theilnehmende Liebe des Bruders in seinen Aeußerungen zu entdecken. Er warf ihr Eigensinn, Mangel an Selbstvertrauen, träges Phlegma vor, weil sie durchaus nicht Stellen anzunehmen gedachte, denen sie sich nicht gewachsen fühlte; und sie nannte seine Ansprüche an sie ungerecht, weil sie nie Zeit, Geld und Gelegenheit gehabt hatte um die großen Lücken in dem Unterricht ihrer Kindheit auszufüllen.
Endlich hatte sie seine Autorisation erhalten, die
Ida von Hahn-Hahn: Zwei Frauen. Erster Band. Berlin 1845, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Frauen_(Hahn-Hahn).djvu/151&oldid=- (Version vom 31.7.2018)