einer solchen nicht. Wie das Morgenlicht sich hervor arbeitet aus den umhüllenden nächtlichen Wolken, wie die Blume in langsamer Entfaltung ihre grünen Kelchblätter zurückschlägt: so bewegte es sich allmälig in ihrer Seele, und hatte sie auch noch kein durchgebildetes Verständniß sondern erst Wahrnehmungen: so schien ihr dennoch das Leben eine so ernste und wichtige Sache, dermaßen alle Kräfte in Anspruch nehmend, wenn man es würdig auszufüllen strebe, daß man sich tüchtig beisammen halten und nicht in Träumen von einem idealischen Seligkeitszustand verflattern müsse. Wie fast alle Menschen, die zu bedeutender Selbständigkeit gelangen, entwickelte sie sich langsam und nur Schritt vor Schritt. Ihr Urtheil war nicht gleich fertig: es bildete sich mit der Erfahrung aus. Ihre Ansichten waren unsicher: sie hatte noch keinen eigenthümlichen Standpunkt um die Dinge zu betrachten. Sie nahm ein unendliches Material in sich auf: verarbeiten konnte sie es nicht auf der Stelle. Sie verschloß Alles in sich, was sie verstand und nicht verstand, begriff und nicht begriff: weder zur Bejahung noch zur Verneinung war sie vorgedrungen. Sie nahm auf Treu und Glauben Dasjenige für wahr oder für falsch an, was irgend eine Autorität ihr dafür bezeichnete. Dies find die Allüren der
Ida von Hahn-Hahn: Zwei Frauen. Erster Band. Berlin 1845, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Frauen_(Hahn-Hahn).djvu/033&oldid=- (Version vom 31.7.2018)