welche an allen Höfen des vorigen Jahrhunderts der französische Revolution vorherging. Die Sittenverderbniß hat sich seitdem durch alle Kreise des Lebens verbreitet; es giebt, auch in dieser Beziehung, keinen bevorrechteten Stand mehr. Nur weil sie allgemein geworden ist, tritt sie bei Einzelnen weniger, also auch weniger frech hervor. Deutet das nicht auf eine unvermeidliche Revolution, deren Bedingungen sich im Schooß unserer Gesamtverhältnisse combiniren, und die ebenso unfehlbar, wenn auch in keiner vorher zu bestimmenden Form, ausbrechen muß, wie eine Epidemie unter gewissen Umständen in der physischen Welt erscheint? Ein Mensch wie der Marschall von Richelieu ist in unsern Tagen undenkbar. Wo alle kolossalen Proportionen, dem Gleichheitssystem gemäß, verschwinden, kann auch so eine kolossale Wüstlingsexistenz sich nicht ausbilden; aber die Fraktionen einer solchen werden jezt hunderten zu Theil, und da nur die Größe, auch die der Verderbtheit, dem oberflächlichen Blick entgegenspringt, so hat sich die vage Ansicht, allen statistischen Beobachtungen zum Trotz ausgebildet: unser Jahrhundert lebe in paradiesischer Unschuld verglichen mit den Lasterzuständen des vergangenen. Die schauderhafte und beängstigende Vermehrung der Verbrecher, der Findlinge, der Irrsinnigen,
Ida von Hahn-Hahn: Zwei Frauen. Erster Band. Berlin 1845, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Frauen_(Hahn-Hahn).djvu/014&oldid=- (Version vom 31.7.2018)