weil das Böse nicht hinreichte und dort nicht mehr verletzen konnte. Es gab Menschen, deren Leben schon auf dieser Erde wie ein Leben nach dem Tode war, weil sie durch die Qual der tiefsten Verlassenheit einmal geschritten waren – und das, was sie danach gefunden, war eben das bessere, das höhere Leben. Und Großmama sagte sich, daß, wie jeder Einzelne, wohl auch jede Gesamtheit einmal das äußerste Maß ihrer Leidensfähigkeit erreichen muß, daß aber eine Macht, die über allem steht, bestimmt, was das endgültige Ergebnis solchen Leidens sein soll, und oftmals zu Gewinn wandelt, was Feindestücke zu Verderb ersann. Auf solche Erfahrung verwies sie, die in langem Leben still und weise Gewordene, manche Jüngere, wenn sie bei ihr Aussprache suchten, ganz verstört ob all des Schauerlichen, das sich ihnen urplötzlich offenbart hatte. Jüngere, die in allem Augenblicklichen noch Endergebnisse zu schauen wähnten, weil sie noch nicht, wie Großmama, erfahren, daß alles wandelbar ist, und denen Bosheit und Machtmißbrauch deshalb so ganz unerträglich dünkten, weil sie jedes ihnen bekannte Recht umzustoßen schienen, und sie darin etwas Unrichtiges, gleichsam einen Rechnungsfehler sahen, der das ganze Lebensexempel, das doch glatt aufgehen sollte, dauernd verwirren mußte. Bei solchen Gesprächen verwies Großmama dann wohl bisweilen auf das Deckengemälde in ihrer Schloßkapelle. Da sahen auch Säulen und Bogen schief und verzerrt aus, als müßten sie gleich umstürzen; aber von einem bestimmten Punkt aus betrachtet, erwies sich
Elisabeth von Heyking: Zwei Erzählungen. Philipp Reclam jun., Leipzig [1918], Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Erz%C3%A4hlungen_Heyking_Elisabeth_von.djvu/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)