„Du weißt es ja schon selbst längst, wie ich dich liebe!“ gestand sie ihm. Sie errötete schmerzlich und fühlte, wie sich sogar ihre Lippen vor Scham verzerrten. „Ich liebe dich. Warum quälst du mich?“
Sie schloß die Augen und küßte ihn fest auf den Mund. Lange, vielleicht eine ganze Minute lang, konnten sie diesen Kuß nicht abbrechen, obwohl sie wußte, wie unanständig es war, daß er selbst sie verurteilen würde und daß das Dienstmädchen hereinkommen könnte…
„Oh, wie du mich quälst!“ wiederholte sie.
Als er nach einer halben Stunde, nachdem er das, was er haben wollte, bekommen hatte, im Eßzimmer saß und aß, lag sie vor ihm auf den Knien und blickte ihm gierig in die Augen; und er sagte ihr, daß sie einem Hündchen gleiche, das auf ein Stückchen Schinken warte. Dann setzte er sie sich auf ein Knie, wiegte sie wie ein Kind und sang:
„Tara rabumdiä… Tara – rabumdiä!“
Und als er sich verabschiedete, fragte sie ihn mit leidenschaftlicher Stimme:
„Wann? Heute? Wo?“
Und sie streckte beide Hände nach seinem Munde aus, als wollte sie die Antwort mit den Händen auffangen.
„Heute wird es kaum gehen,“ sagte er, nachdem er etwas nachgedacht hatte. „Vielleicht morgen.“
Und sie trennten sich. Vor dem Essen fuhr Ssofja Lwowna ins Kloster, aber man sagte ihr, daß Olja irgendwo bei einer Leiche die Psalmen lese. Aus dem Kloster fuhr sie zu ihrem Vater und traf auch ihn nicht an. Dann wechselte sie die Droschke und begann planlos durch die Straßen und Gassen herumzufahren. So fuhr sie bis zum Abend. Dabei mußte
Anton Pawlowitsch Tschechow: Von Frauen und Kindern. Musarion, München 1920, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Von_Frauen_und_Kindern_(Tschechow).djvu/192&oldid=- (Version vom 31.7.2018)