sind jetzt wirklich tausendmal interessanter als die Jungen, und man könnte meinen, daß sie ihre Rollen vertauscht haben. Der Oberst ist zwar um zwei Jahre älter als ihr Vater, aber was bedeutet dieser Umstand, wenn in ihm, aufrichtig gesagt, unvergleichlich mehr Lebenskraft, Temperament und Frische steckt als in ihr, trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre?
Oh, Liebster! – dachte sie sich: – Du Herrlicher!
Im Restaurant gewann sie ferner die Ueberzeugung, daß vom früheren Gefühl in ihrer Seele nicht ein Funke übriggeblieben war. Gegen ihren Jugendfreund Wladimir Michailytsch, oder kurz Wolodja, den sie noch gestern wahnsinnig, bis zur Verzweiflung geliebt hatte, fühlte sie sich jetzt völlig gleichgültig. Heute Abend erschien er ihr so matt, verschlafen, uninteressant und unbedeutend; seine Kaltblütigkeit, mit der er der Bezahlung der Zeche auszuweichen pflegte, empörte sie dieses Mal, und sie mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht zu sagen: „Wenn Sie so arm sind, so bleiben Sie doch zu Hause!“ Die ganze Zeche bezahlte der Oberst.
Vielleicht weil vor ihren Augen Bäume, Telegraphenstangen und Schneehaufen vorüberflogen, kamen ihr die buntesten Gedanken in den Sinn. Sie dachte sich: die Rechnung im Restaurant machte hundertzwanzig Rubel aus, die Zigeuner bekamen hundert Rubel, und morgen kann sie, wenn sie will, auch tausend Rubel zum Fenster hinauswerfen; aber vor zwei Monaten, vor der Hochzeit besaß sie nicht mal drei Rubel eigenes Geld und mußte sich wegen jeder Bagatelle an den Vater wenden. Diese Veränderung!
Ihre Gedanken gerieten durcheinander, und sie erinnerte sich, wie der Oberst Jagitsch, ihr jetziger Gatte, als sie zehn Jahre alt war, ihrer Tante den Hof machte und alle im Hause sagten, daß er sie zugrunde gerichtet habe; die Tante kam auch
Anton Pawlowitsch Tschechow: Von Frauen und Kindern. Musarion, München 1920, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Von_Frauen_und_Kindern_(Tschechow).djvu/178&oldid=- (Version vom 31.7.2018)