„Das ist gelogen!“ schrie eine Stimme ihm entgegen; er wurde noch um einen Schein blasser.
„Ich lüge nie,“ dröhnte es in den Saal. „Und ich bin nicht Sozialdemokrat, weil Ihre Partei für eine gute Sache mit schlechten Waffen kämpft –“
Ein allgemeiner Tumult verschlang, was er noch sagte. „Bravo“ – „sehr richtig“ klangs von der einen Seite – „Pfui“ – dröhnte es langgedehnt aus dem Hintergrunde. Der Polizeileutnant griff nach dem Helm, Egidy stand regungslos wie eine Mauer und starrte auf die sich erschrocken hinausdrängende Menge, die kleine Näherin suchte sich vergebens Gehör zu schaffen.
Ein Mann, auf eine Krücke gestützt, wirre schwarze Haarsträhnen um gelbe, eingefallene Züge, brach sich in diesem Augenblick Bahn bis zur Tribüne. „Genosse Reinhard, – Gott Lob“, die kleine Näherin streckte ihm von oben die Hand entgegen, ein paar andere sprangen helfend herzu, und neben ihr stand er.
„Genossen –“ wie unter einen Zauberschlag schwieg alles, – der Polizeileutnant legte den Helm auf den Tisch, die sich ins Freie Schiebenden wandten sich um, und blieben stehen, in Egidys steinerne Ruhe kehrte das Leben zurück; – „es ist unser unwürdig, eine Versammlung durch Lärm zu stören, in der wir nichts als Gäste sind. Noch weniger haben wir einen Grund, uns darüber aufzuregen, daß Herr von Egidy die Frage der Genossin Bartels ehrlich beantwortet hat. Mir war seine Antwort vielmehr höchst interessant. Alle jene bürgerlichen Ideologen, von den Ethikern an, die die Welt durch die Moral erobern wollen, bis zu den Christlichsozialen um Naumann würden uns eine ähnliche haben
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 597. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/599&oldid=- (Version vom 31.7.2018)