Egidy sprach. Nur zuweilen warf einer eine ironische Bemerkung, einen derben Witz dazwischen, und die feinen Damen vorn entrüsteten sich und klatschten barbarischen Beifall, den der Redner vergebens zu beschwichtigen suchte.
„Kurage hat er!“ flüsterte ein blasses Mädchen mit wund gestichelten Fingern am Tisch neben mir. „Wat ick mir dafor koofe!“ brummte ihr Begleiter. „Jetzt red’ er uns zum Mund, weil er in ’n Reichstag will – un nachher is er doch man bloß ein Junker mehr!“
„Bahn frei! Den neuen Männern und den neuen Zeiten!“ – tönte es von der Rednertribüne, „aus dem Wege räumen, was eine kulturentsprechende, Gott gewollte Entwicklung hemmt“ – irgendwo pfiff einer durch die Finger –, „wir Deutschen wollen das Christentum verwirklichen“ – „Quatsch!“ schrie jemand – „Sst – sst!“ antwortete einmütig die Menge, – „ein Reich des Friedens gründen, wo jeder – Männer und Frauen – ein Recht an das Leben hat, wo niemand hungernd daneben steht, wenn die andern schwelgen.“ – Die Studenten schrieen, und ihre Gefährtinnen winkten mit Hüten und Taschentüchern. – „Wir sind ein mündiges Volk und werden uns aus eigener Kraft andere Zustände schaffen. Die nächsten Wochen sollen uns einen tüchtigen Schritt vorwärts bringen. Das Alte stürzt, und neues Leben blüht aus den Ruinen, – damit an die Arbeit!“ Ein kurzer Beifall, wie ein plötzlich ausbrechendes Gewitter, dann Stille, – die Damen rückten an den Stühlen, die kleine Gemeinde bildete erwartungsvoll an der Türe Spalier. Da plötzlich
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/596&oldid=- (Version vom 31.7.2018)