ernstliche Sorge zu haben. Wo wir bisher gewesen sind, – es gab immer irgend eine mehr oder weniger fatale Liebesgeschichte. In diesem Fall, wo ihre Eitelkeit mitspricht, sieht die Sache erheblicher aus.“ „Aber du sahst sie doch! – Eine solche Verzweiflung läßt das Äußerste fürchten!“ wandte mein Vater ein. „Vertraue mir, lieber Hans – du siehst sie immer wie in einem goldnen Spiegel! Ich habe, gottlob, meine sehr nüchternen und klaren Augen behalten,“ antwortete Mama, „wir haben jetzt nichts zu tun, als zu verhüten, daß sie sich und uns durch tragische Posen kompromittiert – alles andre überlasse ruhig der Zeit und –,“ fügte sie mit einem halben Lachen hinzu – „dem nächsten Mann!“
Was sie sagte, war mir nur willkommen, und ich benahm mich, ihren Worten entsprechend, während ich zu gleicher Zeit mit vollkommener Ruhe an die Ausführung eines Planes ging, der vom ersten Augenblick an, da ich von der Ablehnung der Tante erfahren hatte, für mich fest stand. Ich ließ mir zur Gutenacht die Stirn küssen und legte mich ruhig nieder; daß Mama noch einmal kommen und nach mir sehen würde, wußte ich, und wartete, bis sie zurück in ihr Schlafzimmer ging und jeder Ton im Hause erstorben war. Dann stand ich auf, zog mich sorgfältig an, packte das Nötigste in eine bereit stehende Handtasche und schlich mit angehaltenem Atem die Treppe hinunter. Die Haustür knarrte nicht einmal, als ich sie aufschloß. Es regnete in Strömen, kein Mensch war zu hören, noch zu sehen. Ich wartete in meinen Mantel gewickelt, bis ein fester Schritt mir entgegen klang, ein schleppender Säbel auf das Pflaster
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/304&oldid=- (Version vom 31.7.2018)