denen die Kunst Lebensinhalt war. Ich nahm an den Proben teil und wurde allmählich ein immer häufigerer Gast im Hause des Intendanten. Seine geistvolle, liebenswürdige Frau verhätschelte mich; er selber – wie selten war mir das begegnet! – nahm mich ernst und gab mir allerlei gute Ratschläge, um mein Talent zu fördern. Die Hauptanziehungskraft aber war mir Lisbeth Karstens, die junge, reizende Schauspielerin, die meinen Prolog sprechen sollte. Aus Begeisterung für die Kunst hatte sie das warme Nest ihres Elternhauses verlassen und war allein und mittellos in die Fremde gegangen. Not, Gemeinheit und Verkennung hatten sich ihr in den Weg gestellt, – ihr Enthusiasmus war stärker gewesen als alles. Landsberg, der es wie wenige verstand, Begabungen zu entdecken und die häßliche Bretterbude am Bahnhof infolgedessen über viele kostbare Theater Deutschlands erhob, hatte sie erst kürzlich engagiert. Sie war ein ausgezeichnetes „Gretchen“, eine rührende „Ophelia“, ein hinreißendes „Käthchen von Heilbronn“, und selbst der blutleeren „Thekla“ verhalf sie zu lieblichem Leben. Mein Prolog, von ihr gesprochen, erschien mir wirklich wie ein Kunstwerk. Aber, ach, wieviel Tränen vergoß ich seinetwegen!
Mit aufrichtigem Beifall hatte mein Vater ihn beurteilt; es schmeichelte seiner Eitelkeit, seine Tochter anerkannt zu sehen, aber seine hochmütige Mißachtung des Publikums war zu groß, als daß er ihm ein Urteil über mich hätte gestatten können. Mein Name durfte nicht genannt werden. Ich suchte vergebens, ihn umzustimmen.
„Damit unser guter Name durch die schmutzigen Mäuler aller Menschen gezogen wird?!“ herrschte er mich an,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/263&oldid=- (Version vom 31.7.2018)