und sein Söhnchen, das sie ihm vor drei Jahren geschenkt hatte, auf seinen Knieen ritt. Dieser Stammhalter war der Mittelpunkt des Lebens. Er besaß schon seinen eigenen kleinen Hofstaat, und zwei Miniaturpferdchen – Shetland-Ponies, die der Vater direkt hatte kommen lassen – spürten bereits, wenn er in seinem winzigen Wagen durch den Park fuhr, die Peitsche des kleinen Junkers. Alle tyrannisierte er; für mein Schwesterchen, das selbst gewöhnt war, daß die anderen sich ihr unterordneten, war er der gefürchtetste Quälgeist, und vor ihm flüchtend, klammerte sie sich leidenschaftlich an mich an. Mein liebebedürftiges Herz empfand das sehr wohltätig, und mein, eingedenk der eigenen Kinderqualen, leicht erregtes Mitleid kam ihren Wünschen rasch entgegen. Schon früh morgens pflegte ich mit ihr in den verstecktesten Teil des Parks zu fliehen; ich erfand die phantastischsten Spiele und die buntesten Märchen, und der halbe Tag ging vorüber, ehe ich zu mir selbst kam. Dann geschah es wohl, daß mich heftiger Groll gegen die kleine Tyrannin erfaßte, die mich so in Anspruch nahm; aber ein bittender Blick ihrer großen Blauaugen, ein zärtlicher Druck ihrer runden Ärmchen um meinen Hals machte mich wieder gefügig. Nein, sie sollte, sie durfte nicht erleben, was ich erlebt hatte! Allmählich lernte ich sogar, ihr dankbar sein: die anderen nannten mich einen „Blaustrumpf“ – „überspannt“ – „verdreht“, dem süßen sechsjährigen Blondkopf aber konnte ich gar nicht phantastisch genug sein. Sie wollte immer neue Märchen hören – „ganz neue, die noch kein Kind gehört hat“ –, und unsere ganze Umgebung wurde zum Ausgangspunkt meiner Geschichten, in die
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/243&oldid=- (Version vom 31.7.2018)