der Kerl sonst von der Sozialdemokratie,“ sagte er, „er konnte weder lesen noch schreiben. Jeder, der ihm Fusel gibt, dessen ‚Überzeugung‘ hat er. Stellt Euch vor, alle Viehhirten und Konsorten stimmten wie er und kämen zur Macht, – eine nette Wirtschaft würde das.“ Und als Großmama einwarf: „So gebt dem Volk eine bessere Bildung,“ antwortete er: „Damit jeder Instmannsjunge Professor werden und keiner mehr arbeiten will! Dann sollen wir wohl unsere Frauen vor den Melkeimer setzen und uns hinter den Pflug stellen?“
„Vielleicht entspräche solch ein Wechsel der göttlichen Gerechtigkeit,“ meinte Großmama lächelnd, „seit Jahrhunderten gingen sie hinter dem Pfluge – am Ende ist jetzt die Reihe an Euch!“ Mit hochgeschwollener Stirnader sprang der Onkel vom Stuhl und warf die Türe hinter sich zu. Er war reizbarer als sonst. Zu deutlich pochte die neue Zeit an das schwere Burgtor von Pirgallen, und er selbst hatte die Zugbrücke, die unliebsamen Gästen den Eingang wehrte, in eine feste, steinerne verwandelt. Er selbst hatte bei der Regierung all seinen Einfluß daran gesetzt, damit die Eisenbahn bei ihm vorbei gelegt, der Hafen am Kurischen Haff an seine Gutsgrenze gebaut werde. Nun konnten seine Steine zu fernen Bauten über die Ostsee entführt werden, und die Erträgnisse seines Gutes fanden in Berlin zahlungskräftige Käufer, – aber neue Gedanken waren mit den fremden Ingenieuren und Arbeitern eingeführt worden. Er selbst strebte danach, sein Besitztum, das seine Väter schlecht und recht ernährt hatte, in eine kapitalistische Unternehmung zu verwandeln, von der er Millionen erwartete. Aber mit den Maschinen, mit den Kanälen, den Wiesenmeliorationen,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/236&oldid=- (Version vom 31.7.2018)