Nachdem er eine Reihe von Verordnungen gegeben hatte, hielt er zögernd inne. „Und nun das Schlimmste für so ein junges, hübsches Fräulein: für die nächsten sechs – acht Monate ist jede Art starker Bewegung verboten. Also kein Reiten – kein Tanzen –“
Er erwartete offenbar meinen heftigsten Widerspruch und sah mich auf mein freimütiges „Gewiß, Herr Doktor“ mit unverhohlenem Erstaunen an.
„Du bist ein tapfres Kind!“ sagte Großmama, als wir die Treppe hinuntergingen.
„Gar nicht, Großmama!“ erwiderte ich. „Denn nur eins wünsch ich mir: Ruhe zum Lernen, zum Lesen und Arbeiten.“
Ein Besuch in Weimar, den wir vorhatten, und der dem langen Aufenthalt in Pirgallen vorausgehen sollte, erschien mir zunächst nur wie eine Störung. Aber je mehr wir uns der Stadt Goethes näherten, desto mehr freute ich mich darauf. Während Großmama versuchte, das Enkelkind mit dem, was ihrer an Menschen und Dingen dort wartete, vertraut zu machen, verlor sie sich in den Erinnerungen ihrer Jugend. Und ich sah sie vor mir, die Männer mit den feinen glatten Gesichtern über den hohen Vatermördern, die Frauen mit den kunstvoll frisierten Köpfchen und den schlichten Mullfähnchen, wie sie auf den Wiesen von Tiefurt Blindekuh spielten und zierlich-gravitätisch im Schloßsaal die Gavotte tanzten; ich hörte, wie sie mit Lamartine und mit Byron weinten und schwärmten, ich fühlte, wie ihre Gemüter sich tiefer Freundschaft erschlossen, wie ihre Herzen schlugen in Liebesglück und Leid. Zu Goethes Füßen sah ich die Großmutter sitzen, stumm, ehrfurchtsvoll
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/227&oldid=- (Version vom 31.7.2018)