ich mir am Ende meines Lebens diesen Glauben nehmen lassen? Eine Anerkennung Darwinscher Theorien bedeutet doch für uns, die wir Laien sind, auch nichts anderes als Glauben an ihn. Und Sie sagen selbst, daß Koryphäen der Wissenschaft ihn mit wissenschaftlichen Gründen bekämpfen. Wäre es nicht heller Wahnsinn, wenn ich, wie ein ungeübter Schwimmer, mich vom sicheren Port erprobten Glaubens in die brandenden Wogen fremder Ideen stürzen wollte, nur weil vielleicht – vielleicht! – irgendwo in weiter Ferne ein neues festes Land zu finden ist?! Ich bin zu alt dazu – –“
Statt aller Antwort küßte Stauffenberg Großmama stumm die Hand. Meine Erregung war aber so stark, daß sie nach Ausdruck verlangte.
„Und wenn ich das neue feste Land nie erreichen sollte, – ich würde lieber im Meere untergehen, als immer nur sehnsüchtig vom sicheren Port aus zusehen, wie es tobt und schäumt“, sagte ich, und meine Stimme zitterte dabei.
Ein Schatten flog über Großmamas Züge. Sie legte ihre schmale kühle Hand auf meine heißen Finger. „Das Leben wird schon dafür sorgen, daß es beim bloßen Wünschen nicht bleibt, mein Kind“, dann sich wieder zu Stauffenberg wendend, fügte sie hinzu: „Sie sehen, wie wenig unsere Lebenserfahrungen unseren Enkeln nützen. Jeder fängt von vorn an, und wir können schließlich nur Tränen trocknen und Wunden verbinden.“
Bald darauf reiste Stauffenberg ab, und ein andrer trat mehr und mehr an seine Stelle. Es war Karl von Gersdorff, ein Neffe meiner Großmutter, der auch
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/223&oldid=- (Version vom 31.7.2018)