meines Innern. Halb verhungert im dunkelsten Winkel, saß sie in sich versunken und grau, meine arme Seele. Wie arm, wie elend war ich! Wo war ein Ziel für mich, des Ringens wert? Wo eine große Flamme, um des Lebens dunkle Asche wieder anzufachen?!
Ein schmales, blasses Antlitze von schwarzen Spitzen umschlossen, beugte sich über mich. „Großmama,“ flüsterte ich, und es war, als ob die Hoffnung eine Türe öffnete, die ins Helle führte. „Nur still, mein Liebling, ganz still –“ sagte sie lächelnd, und eine Träne fiel mir auf die Stirn, eine Freudenträne.
Mit einer Pflichttreue, die keine Schwäche aufkommen ließ, hatte meine Mutter mich Tag und Nacht gepflegt. Großmama war gekommen, sie abzulösen. Sie war es auch, die, wie immer, wenn es zum Wohle ihrer Kinder und Enkel notwendig war, die Mittel hergab, durch die ich gesund werden sollte. Als der Arzt mir eine karlsbader Kur verordnete, wußte ich wohl, warum Mama die Lippen zusammenpreßte und Papa sich unruhig räusperte: was sie hatten, verschlang des Lebens notwendiger Aufwand.
So fuhr ich denn mit Großmama, sobald ich transportfähig war, nach Karlsbad, wo sie selbst so oft schon Heilung gefunden hatte. Ihr alter Arzt, zu dem sie mich brachte, schüttelte den Kopf über mich, einen dicken, kahlen Mönchskopf, der auf einem dünnbeinigen Zwergenkörper saß. „Nur Seelenaufruhr, wo es nicht das Alter ist, führt zu solchen Körperkatastrophen“ – ein fragender Blick aus kleinen blitzenden Äuglein richtete sich auf mich. „Wie alt ist denn das Fräulein?“
„Siebzehn Jahr!“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/215&oldid=- (Version vom 31.7.2018)