und auf der obersten Stufe erschien, als habe die größte davon sich losgelöst, und sei vom Mondzauber getroffen zu nächtlichem Elfenleben erwacht, ein kleines, schneeweißes Geschöpfchen, Stirn und Wangen von goldenen Locken umwallt. Erst als ihre Ärmchen warm meinen Nacken umschlangen, fühlte ich, daß es ein Menschlein war, das mich willkommen hieß: mein Schwesterchen. Mit ungewohnter Zärtlichkeit begrüßte mich die Mutter, mit einem: „Nun bist du endlich daheim,“ aus dem die ganze vergangene Sehnsucht klang, küßte mir der Vater die Stirn, und die Freude hielt mich noch wach, als die Kissen meines Bettes mich schon lange weich und wohlig umfingen.
Mit dem dämmernden jungen Tage trieb die Erregung mich zum Tore hinaus. Still und verträumt lag der Hof im Morgenglanze, und die stummen Steine der Mauern erzählten von der Vergangenheit. An unseres Hauses Platz mochte Pribislavs, des letzten Wendenherzogs, Fürstensitz sich erhoben haben, als er Albrecht, dem askanischen Bären, Krone und Land überließ und Triglaff, den dreiköpfigen Götzen, dem Christengott zu Ehren verbrannte. Sieben Jahrhunderte hatten zusammengewirkt, um des Gekreuzigten Haus zu errichten, und viele wilde Kämpfe um Glauben und Macht, die seiner Friedensbotschaft und Liebespredigt spotteten, hatten auf dem Raum zu seinen Füßen getobt. Jetzt nisteten die Schwalben an Giebel und Dachfirst, und auf dem Hof, der vor Zeiten von klirrenden Kettenpanzern und Sporen widerhallte, pickten weiße Tauben die Körnlein auf, die sich in dem wuchernden Unkraut zwischen den Pflastersteinen verloren hatten.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/195&oldid=- (Version vom 31.7.2018)