daß sie den Verkehr mit „dem Kinde“ nicht wünsche, denn er kam nicht wieder.
Wir fuhren täglich spazieren, – wie ich von meinem Wagen aus die Touristen beneidete, die mit dem Rucksack auf dem Buckel frisch und fröhlich in die Welt hineinmarschierten!
Nach Augsburg zurückgekehrt – ich war inzwischen sechzehn Jahre alt geworden – eröffnete mir die Tante, daß ich mich nunmehr, nachdem sie einen Rückfall nicht wieder beobachtet habe, freier bewegen dürfe. Da ich aber weder einen Schreibtisch-, noch einen Stubenschlüssel bekam, beschränkte sich die „Freiheit“ nur auf ein geringeres Maß von Kontrolle, auf den Besuch von Gesellschaften, die nicht ausschließlich aus Damen und alten Herren bestanden, und auf den des Theaters, wo zwei Logenplätze uns jeden Abend zur Verfügung standen. Die Konsequenz und Energie meiner Tante, ihre unablässigen, in den verschiedensten Formen sich wiederholenden, und neuerdings durchaus freundschaftlich gehaltenen Auseinandersetzungen über die Pflichten eines jungen Mädchens von vornehmer Geburt, hatten überdies allmählich auf mich gewirkt wie ein Opiat, das die Seele stumpf macht. Wachte irgend etwas wieder auf in mir, so hielt ich es selbst schon für ein Unrecht, und beeilte mich, es wieder einzuschläfern. An meine Kusine schrieb ich damals: „Du fragst, ob ich irgend etwas schreibe? Es lebt vieles in meinem Kopf und Herzen, aber ich finde keine Zeit dazu, es zu gestalten. Das ist ein wunder Punkt in meinem Leben. In mir kocht und glüht es, und ich glaube wohl, daß ich Talent habe, und daß es hinausstürmen will. Da muß ich denn doppelt
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/180&oldid=- (Version vom 31.7.2018)