– bei der problematischen Herkunft!“ Ich ballte unwillkürlich die Fäuste, daß mir die Nägel ins Fleisch drangen und warf hochmütig den Kopf zurück: „Mit deinen Augsburgern Krämern kann sie sich freilich nicht messen!“ Kochender Zorn verzerrte die Züge der Tante. „Wirst du sofort wegen dieser unerhörten Frechheit um Verzeihung bitten?!“ schrie sie mich an. Mit einem kurzen „Nein“ wandte ich mich ab und ging in mein Schlafzimmer.
Ich warf mich aufs Bett und biß die Zähne zusammen, um nicht laut auf zu schreien: krampfhafte Schmerzen in der Seite ließen mich die seelischen Leiden momentan vergessen. Andeutungen davon hatte ich schon in Pirgallen beim Reiten gespürt; jetzt, in Augsburg waren sie immer stärker geworden, und steigerten sich nach jeder großen Erregung zu einem heftigen Anfall. Schließlich hatte ich mich entschlossen gehabt, der Tante davon zu sprechen; sie hatte es zum Anlaß genommen, mir zu erklären, daß ein gut erzogenes junges Mädchen nicht krank zu sein hätte, und ihr Hausarzt hatte mir dann, nach einem kurzen Blick auf mein blasses Gesicht „Beefsteak und Rotwein“ empfohlen. Daraufhin sagte ich nichts mehr, auch wenn ich mich vor Schmerzen krümmte. So wie diese Nacht war es freilich noch nie gewesen. Ich tat kein Auge zu.
Am nächsten Morgen wurde mir mitgeteilt, daß ich oben zu bleiben hätte. Auch vor den Dienstboten sollte ich gedemütigt und so zur Abbitte gezwungen werden. Als auch der zweite Tag verstrich, ohne daß ich dazu Miene machte, kam Pfarrer Haberland zu mir. Er sprach mir viel von Tantens Liebe zu mir, ihrer Sorge
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/178&oldid=- (Version vom 31.7.2018)