gab Menschen, es gab eine große Partei, die die Ideale der Freiheit und der Menschenrechte hochhielten, ich konnte mich zu ihnen bekennen, ohne, wie sonst immer, bei den Meinigen auf heftigen Widerstand zu stoßen. „Konservativ kann ich nicht sein,“ schrieb ich im Frühjahr 1881 an meine Kusine, mit der ich, seitdem die Tante befriedigt die guten Resultate ihrer Erziehung konstatierte, wieder korrespondieren durfte, „das wäre dasselbe, als wenn ich für die Prügelstrafe und die Unterdrückung jedes wissenschaftlichen Fortschritts eintreten wollte. Der Nationalliberalismus, der nicht eine Kaste und ihre veralteten Privilegien, sondern die Interessen des ganzen Volkes vertritt, der die wissenschaftliche Erkenntnis stets zu fördern bereit ist, und daher auch der religiösen Orthodoxie energisch gegenüber steht, entspricht meinen Ansichten.“
Der kirchliche Liberalismus, den kennen zu lernen mir noch interessanter war, und der in Augsburg allgemein vorherrschte, wurde im Kreise meiner Tante durch den Pfarrer ihrer Gemeinde auf das eindrucksvollste vertreten. Der sonntägliche Kirchgang – hier ebenso eine selbstverständliche Pflicht wie zu Hause – hatte darum nichts abschreckendes mehr für mich. Wenn Julius Haberlands schöne Apostelgestalt auf der Kanzel erschien und seine sonore Stimme die Kirche mit Wohlklang erfüllte, war ich vom ersten Augenblick an gefesselt: hier fehlte jede dogmatische Schroffheit; Verständnis und Milde fand ich hier für menschliche Fehler und Irrtümer, wo mir in Posen nichts als Verurteilung und Härte begegnet war.
Alle Wunden öffneten sich wieder, die die religiösen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/172&oldid=- (Version vom 31.7.2018)