– was in dieser Umgebung noch erstaunlicher schien – er hatte selbständig über Welt und Menschen nachgedacht. Was ich geplant hatte, um die Tante zu ärgern und mir die Zeit zu vertreiben, war rasch vergessen, – so sehr fesselte mich unser Gespräch. Inzwischen fuhren wir im leuchtenden Sonnenschein den Friedrichskanal entlang, durch das dunkelgrüne Moosbruch, an niedrigen Häuschen vorbei, um die verkrüppelte Obstbäumchen blühten, vorüber an Agilla und Juwendt, uralten litauer Ansiedlungen, wo die Strohdächer fast zur Erde reichten und die kleinen struppigen Pferdchen, denen des Litauers zärtlichste Sorgfalt gilt, lustig zwischen den Scharen schmutziger Blondköpfchen umhersprangen. Mein Nachbar kannte Land und Leute gut; er wußte von den hartnäckigen Kämpfen gegen die Ordensritter zu erzählen, die mit einer – was die Religion betrifft, freilich nur scheinbaren – Unterwerfung der Litauer erst dann endeten, als die Zahl ihrer Männer auf das äußerste dezimiert war, und kannte all ihre seltsamen Gebräuche, die sich noch aus der Zeit des Heidentums erhalten hatten.
Ein heftiger Stoß, der unseren Dampfer erzittern ließ, unterbrach seine Schilderungen: wir saßen fest, vergebens arbeitete die Maschine, der Kapitän, der gestand, hier noch nie gefahren zu sein, war ratlos, und alles Geschrei vermochte niemanden ans Ufer zu locken als die Kinder.
„Setzen Sie ein Boot aus und fahren Sie hinüber,“ damit wandte sich mein Onkel an den Kapitän. Unter dem Vorwand, sich mit den Litauern nicht verständigen zu können, lehnte er es ab. „Begleiten wir ihn!“ sagte
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/155&oldid=- (Version vom 31.7.2018)