Dampfer schon fauchte und prustete, wartete die Menge der Geladenen auf den vornehmsten Mann, den größten Besitzer und den eben zum Reichstagskandidaten des Kreises aufgestellten Freiherrn. Er und seine Frau wurden umringt, ich stand abseits und musterte mit heimlichem Naserümpfen die Gesellschaft: Die Frauen, fast alle groß und hager, in seidene Staatskleider gezwängt, über den kantigen Gesichtern und den glatten Scheiteln kleine Kapotthütchen, mit allen Zeichen jener nicht zu überwindenden Verlegenheit, die ungewohnte, mit Wetter und Tagesstunde unvereinbare Kleidung hervorruft; die Mädchen, hochrot vor Erregung, in steifgestärkten Kattunfähnchen, Zwirnhandschuhe über den Händen, klirrende Armbänder über den breiten Gelenken, in einem dichten Haufen ängstlich zusammengeschart, als gelte es, sich gegenseitig vor den Angriffen der Männer zu schützen. Die hatten sich schwarz und dicht gegenüber postiert, nur hier und da von einer Reserveleutnantsuniform irgend eines hundertsten Infanterieregiments unterbrochen. Sonst lauter Bratenröcke und Zylinder. Mich grauste es; ganz anders hatte ich mir die Sache gedacht, und beinahe wäre ich rasch wieder in unseren Wagen gesprungen, als Onkel Walter sich nach mir umdrehte: „Erlaube, daß ich dir einige der Herren vorstelle: Herr v. Trebbin, v. Wanselow, v. Warren-Laukischken.“ So alte Namen und solche Bauern! dachte ich, während mein Blick auf ihren roten Händen sekundenlang haften blieb.
„Ah, da sind Sie ja auch, mein lieber Rapp,“ hörte ich meinen Onkel lachend sagen, „trauen Sie sich wirklich einmal in Damengesellschaft?!“ Ich wandte mich rasch nach
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/153&oldid=- (Version vom 31.7.2018)