Bild der Erdenzukunft zeigte: Ich sah die Reichen schwelgen, die Armen hungern; die Toten sah ich auf den Schlachtfeldern, hingemordet um der Ländergier der Könige willen, und sah, wie die Menschen einander zerfleischten wie wilde Tiere, im Namen ihrer Götter! Und dann verklangen in weiter Ferne all die Laute der Qual, das Weinen der Verlassenen, das Stöhnen der Hungernden, Verzweiflungsschreie und Todesröcheln. „Die Wirklichkeit des Himmels, die selige Erde“ zeigte sich, die Welt der Zukunft, wo niemand vergebens mehr nach Brot verlangen, niemand nach Erkenntnis verdursten, wo die Menschheit sich selbst erlöst haben wird aus der Hölle irdischer Verdammnis. „Spirit, behold thy glorious destiny!“, – rief Mab, die Königin, es mir nicht zu? Galt nicht mir ihre Mahnung: Fürchte dich nicht! Führe den Krieg gegen Herrschsucht und Falschheit und Not, schlag durch die Wildnis den Pfad hinüber in die Welt, die da kommen soll!
Ich empfand Shelleys Atheismus nicht, ich fühlte nur, daß er den Gott verleugnete, an den auch ich nicht zu glauben vermochte, und wie eine Offenbarung wirkte auf mich sein lebensstarker, hoffnungsreicher Idealismus, sein Vertrauen in der Menschen eigene Kraft, sein feuriger Appell an die Macht des Willens.
In langen Nächten voll innerer Kämpfe suchte ich mir klar zu werden über den Weg, den ich zu gehen hatte, und baute mir langsam, Stein um Stein mühselig zusammentragend, die Kirche meiner Religion auf. Ein heißes Glücksgefühl erfüllte mich, als ich mein Werk vollendet sah und der Entschluß in mir fest stand, mich zu keinem andern Glaubensbekenntnis als zu
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/136&oldid=- (Version vom 31.7.2018)