ihr das Feld, mir nur unter heftigem Händedruck ein „verdammte Pfaffen“ zuflüsternd. Alle meine Schubfächer wurden untersucht, alle Bücher konfisziert, die in die Rubrik: Lehrbücher und Backfischliteratur nicht hineinpaßten; der Schlüssel vom Bücherschrank wurde abgezogen, – nur die verborgenen Schätze im Sofa blieben unentdeckt. Ich befand mich in einer unbeschreiblichen Aufregung: Der erste Mensch, an den ich mich hilfesuchend gewandt, vor dem ich mein Inneres enthüllt hatte, wie vor keinem bisher, vertraute mir so wenig, daß er mich überwachen ließ wie einen Verbrecher! Auch mit meinem Lehrer hatte Mama an demselben Tage eine längere Unterredung, von der er sehr rot und verschüchtert zu mir kam. Er umging von da an noch vorsichtiger als sonst jede Berührung religiöser Fragen. Er wurde überhaupt immer scheuer vor mir und war seltsam zerstreut.
Eine unüberwindbare Bitterkeit ließ diese erste Erfahrung mit dem Pfarrer in mir zurück; das persönliche Vertrauen war ein für allemal vernichtet, aber ich hoffte trotzdem, daß das, was er lehrte, mir Befreiung bringen würde. Und ich klammerte mich an diese Hoffnung. Ich las in den Büchern, die er mir gab, und in der Bibel, ich klagte mich vor mir selber an, wenn ich eine rechte Andachtsstimmung nicht festhalten konnte und immer wieder an den Widersprüchen und Unwahrscheinlichkeiten, die mir aufstießen, Anstoß nahm.
War die Bibel von Gott inspiriert, so mußte die Schöpfungsgeschichte wahr sein; und war sie es, warum lehrte man uns dann die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse der Gelehrten kennen? Bei allen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/132&oldid=- (Version vom 31.7.2018)