der wieder in Garmisch gewesen war, und dessen huldigende Gedichte mir nur darum keinen Eindruck machten, weil ich die unreine Haut und die Schweißhände ihres Verfassers nicht vergessen konnte.
Ich war wirklich kein Kind mehr! Stillschweigend packte ich all mein Spielzeug in einen großen Korb und ließ ihn auf den Boden schaffen.
Die neugewonnene Lebenskraft war wie ein Motor, der das ganze Räderwerk der Maschine auf einmal in Bewegung setzt: mit Feuereifer stürzte ich mich über meine Studien; dabei galt mir jeder Tag für verloren, an dem ich nicht ein Gedicht gemacht oder an irgend einem meiner Dramenentwürfe gearbeitet hätte, zugleich aber schmückte ich mich mit Vergnügen für die Tanzstunde, und genoß die Erlaubnis, an der Geselligkeit im Hause der Eltern teilzunehmen, mit vollen Zügen ...
Da liegen sie vor mir mit vergilbtem Umschlag und verblaßter Schrift, die alten Aufsatzhefte jener Tage, in denen ich vom Lehrer gestellte oder selbstgewählte Themen behandelte: kindischer Unsinn und frühreife Weisheit in buntem Gemisch. Daß meine Ansichten denen des Lehrers oft widersprachen, beweisen seine kritischen Randbemerkungen; trotzdem findet sich meist ein „Gut“ oder „Recht gut“ darunter, – als ein Zeugnis für seine Objektivität mehr als für die Richtigkeit meiner Auffassungen. Meine Frondeurnatur, die mich dazu trieb, allem, was ich hörte, zunächst einmal meinen Widerspruch entgegenzusetzen, zeigt sich fast in jeder dieser Arbeiten. Während mein Lehrer z. B. Schiller über alles liebte, pries ich Goethe; so heißt es in einem Aufsatz über die Balladen der beiden Dichter: „Goethe
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)