Aber sie ist auch nur aus Glas und hat schon lange einen Sprung! …
Im Frühjahr wurde ich krank. Wiederholte Schwindelanfälle waren der Anlaß gewesen, mich schon Wochen vorher aus der Schule zu nehmen. Dann bekam ich die Masern und lag lange Zeit zu Bett. Als ich wieder aufstehen durfte, konnte ich mich durchaus nicht erholen. Eine Herzschwäche war zurückgeblieben. Ich sollte viel an der Luft sein und war daher vor- und nachmittags im Zoologischen Garten, wo ich mit Großmama auf einer sonnigen Bank zu sitzen pflegte, die recht schmal gewordenen Hände müßig im Schoß, den Kopf, der mir immer so schwer war, hinten übergelehnt. Sie las mir vor und hatte sich zu dem Zweck eine besondre Art von Lektüre ausgewählt: Schilderungen der Jugendzeit bedeutender Männer, die sie ihren Lebensbeschreibungen und Selbstbiographien entnahm. Zwei davon machten mir einen unauslöschlichen Eindruck: die Napoleons und die Goethes. Wie der große Kaiser ein armer Junge gewesen war und sich dem niederdrückenden Einfluß von Not und Verlassenheit nicht nur nicht unterwarf, sondern beide ihm zu Mitteln seiner Stärke wurden, und wie der Genius des großen Dichters sich schon an des Knaben Puppentheater, vor den staunend aufhorchenden Freunden offenbarte, denen er seine Märchen erzählte, – wundervoll war es! „Das muß das Schönste sein im Leben, Großmama: zu sein wie ein Stern, der allen leuchtet“ – sagte ich einmal nachdenklich. Und ihre Antwort tönt mir noch in den Ohren: „Den alle lieben, meinst du wohl, weil er alle wärmt!“
Legte sie das Buch weg, so erzählte sie von ihrer eignen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/070&oldid=- (Version vom 31.7.2018)