Mama hatte immer schrecklich viele Besuche zu machen und zu empfangen; und was beiden an freier Zeit etwa noch übrig blieb, das verschlang die große, zu jeder Jahreszeit äußerst lebendige Geselligkeit. Nur vormittags zwischen ein und zwei Uhr pflegte meine Mutter mich bei schönem Wetter zum Spaziergang mitzunehmen. Mit dem Reifen, meinem unzertrennlichen Gefährten, lief ich voraus durch eine jener menschenleeren, langen, graden Straßen, die in Fächerform sämtlich am Schloßplatz münden, und trieb mein Spiel durch die stillen Laubengänge des Parks, bis es Zeit war, Papa vom Bureau abzuholen. Pünktlich, wenn wir vor dem Hause standen, schloß der Kommandierende, General von Werder, der Sieger von Wörth, die Vormittagsarbeit und kam mit Papa hinaus, um uns heim zu begleiten, denn er mochte alle schönen Frauen gern, meine Mutter insbesondere. Ich sehe ihn noch, den kleinen Mann, mit den Händen auf dem Rücken und den blitzenden Augen in dem scharf geschnittenen Gesicht, wie er neben uns herging, immer zu einem derben Scherz bereit und stets einen Leckerbissen für mich in der Tasche.
Mein Reifen ruhte auf dem Heimweg, denn dann hatte der Vater mich an der Hand, und des Fragens und Erzählens war kein Ende. Wenn er für meine Phantasien auch nur wenig Verständnis hatte und ich mich hütete, sie ihm anzuvertrauen, so wußte er doch wie kein anderer meine Wißbegierde zu stillen. Er hatte eine Art, mir die Dinge klarzumachen und selbst schwierige Probleme meinem kindlichen Verständnis nahezubringen, mir Naturerscheinungen, chemische oder physikalische Vorgänge zu erklären und mich das Leben der
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/037&oldid=- (Version vom 31.7.2018)