in Rom, meine Mutter den Posteinlauf sichtend, mir einen Brief Heinrich Mindens aus Dresden reichte.
Es war ein Sonntag. Ein bläulich heller Sonnenstrahl lag quer über dem Frühstückstisch, und die ganze Morgenluft war melodisch von katholischem Glockengeschwirr.
Der Sonnenstrahl und das Glockengeschwirr thaten mir weh – ich war gänzlich mutlos und traurig. – Nichts weniger als einer freudigen Überraschung gewärtig, öffnete ich den Brief Mindens. Er enthielt eine höfliche Karte von Julius Rodenberg und eine von ihm verfaßte, auf drei Rundschauseiten eng gedruckte Kritik von „Ehre“.
Und was für eine Kritik! … Sie fing an mit den Worten: „Wer Ossip Schubin auch sein möge – des einen sind wir gewiß, daß er kein junger Mann mehr sein kann!“ … Das Übrige mögen die, welche sich dafür interessieren, in der Februar-Nummer der „Deutschen Rundschau“ von 1883 nachlesen.
Ich begriff nicht, daß das Lob sich wirklich auf mich beziehen könne – ich wurde ganz dumm und verwirrt von nicht begreifen können – ich fing an zu schluchzen – meine Mutter nahm mir die beiden Rundschaublätter aus der Hand und las sie mir vor.
Von einem Augenblick zum andern war ich zum Rang eines deutschen Schriftstellers erhoben, eines Schriftstellers, den man ernst nimmt – das Avancement war unheimlich rasch! –
Als meine Mutter mir die durchlesenen Blätter zurückgab, schüttelte sie den Kopf, – dann mit einem sehr ernsten Gesicht, die berühmten Worte Annas von Österreich an Maria von Gonzaga zitierend, sagte sie:
„Ah ma pauvre fille! Te voilà reine de Pologne! …“
Ossip Schubin: Meine Erstlinge. Verlag von Gebrüder Paetel, 1894, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Meine_erstlinge_Schubin_Ossip.djvu/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)