Thränen und Verzweiflung! Wenn ein erwachsener Mensch mit tragfähigen Schultern leidet, nun, das ist einmal das Leben, dafür ist er auf der Welt. Aber solch eine arme Eintagsfliege, widerstandslos und zerbrechlich, die goldig schillernden Häutchen zerfetzt, der Glanz abgestreift, die zarten Flügel verbogen und zerknickt, und all’ das durch ihn – schändlich! Als ob er eine Vivisektion vorgenommen hätte, und die Mutter des unglücklichen weißen Kaninchens schriee ihm plötzlich mit menschlicher Stimme in die Ohren: „Was hast du meiner Einzigen angethan!“
Schlaf und Appetit nahm ihm die Vorstellung, zwischendurch huschten auch Bilder mit Lore Berth im Mittelpunkt. Noch eine gekränkte, mißhandelte, falschen Gerüchten ausgesetzte Frau und abermals durch ihn! Wenn man’s recht besah, konnte man sich etwas einbilden auf seine Macht. Bah, die Malerin, das war ein tüchtiger Kerl, die würde sich schon durcharbeiten, an die verschwendete er kein Mitleid; die besaß sie ja, die starken, tragfähigen Schultern. Aber einmal besuchen – jawohl! Sie hatte vielleicht ein vernünftiges, tröstliches Wort für ihn in Bereitschaft. Er wünschte sich Freunde jetzt, und wenn er sich’s überlegte, sie waren damals an dem verhängnißvollen Abend doch merkwürdig rasch ins Gespräch gekommen, in ein tieferes, inhaltreiches. Eigentlich hatten sie gestritten, aber doch war so eine Art Freimauerei zwischen ihnen gewesen,
Ilse Frapan: Flügel auf!. Paetel, Berlin 1895, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Fl%C3%BCgel_auf_Frapan_Ilse.djvu/177&oldid=- (Version vom 31.7.2018)