Nicht weit von Ludesch gegen Morgen auf dem letzten
Absenker des Gebirgs liegt die uralte Kirche von St. Martin,
jetzt abgeschafft und verschlossen, einst Pfarrkirche und die älteste
der Gegend, welche die ganze Schattenseite des Walserthales
zu ihrem Sprengel zählte, während die Sonnenseite nach St.
Anna zu Thüringen gehört. Der Wirth sorgte für die Schlüssel
und führte uns durch die Weingärten zum Gotteshaus.
Es liegt auf einem Rebenhügel, in weiter Runde umzogen
von einer verfallenen Mauer, die den ehemaligen Kirchhof
umschloß, dessen Gräber jetzt spurlos eingesunken sind. Unten
liegen verloren in den Obstbäumen und umlaubt von Weinranken
die letzten Häuser von Ludesch am Rande einer schönen
Fläche, wo Wiesen und Kornfelder und Baumgruppen
abwechseln. Rechts zeigt sich das Dorf das wir verlassen
hatten und darüber die Mauern von Blumenegg; links eine
waldige Bergnase. In der Ferne fließt die Ill und darüber
ragen die Berge des Rhätico auf, die hinunter ziehen bis
an den Rhein, auf dessen anderm Ufer die Berge von St.
Gallen sich erheben. Wir standen mit dem Wirthe auf dem
Bühel vor St. Martins Kirche und schauten in die schöne Landschaft
hinein, die jetzt so völlig deutsch ist, daß unter dem
Volke selbst die Erinnerung an die frühere Sprache verloren
gegangen, obgleich der Bauer seine Felder wie seine Dörfer
nicht in deutscher, sondern theils in romanischer, theils in rhätischer
Sprache und mit Namen benennt, die zur Hälfte wohl
älter sind als Augusta Vindelicorum, und Köln am Rhein
Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol, München 1846, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_112.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)