der Sitte, sondern die sittliche Freiheit. Ist es nicht eine innere Notwendigkeit, daß Sie zu ans gehören?
Ich schicke Ihnen Rousseaus „Emil“, den Madame Geoffrin Ihnen so dringend zu lesen empfahl. Ob seine Probleme Ihnen nicht noch allzu fern liegen?
Die Nachricht vom Tode unserer teuren Julie, der für sie eine Erlösung ist, für all ihre Freunde aber ein unersetzlicher Verlust, ging mir zugleich mit Ihrem inhaltsreichen Briefe zu.
„Sie mißverstehen mich;“ schreiben Sie. „Wenn mich die stille Größe all dieser Menschen so sehr ergriff, so vielleicht gerade darum, weil ich nur der Zuschauer dieses Schauspiels sein kann. Ich habe eingesehen, daß ich viel zu klein bin, um mich neben sie stellen zu dürfen. Madame Geoffrins Fragen fühle ich wie ein Brandmal. Ich möchte nicht eher zu ihr gehen, als bis ich ihr antworten und ohne Schamröte ins Auge sehen kann. Rousseaus wundervolles Buch ist eine Offenbarung für mich.“
Mir ist, als finge ich an, Sie zu verstehen. Sie erzählten mir von Ihrem Sohn, und klagten sich an, ein Gefühl der Mutterliebe niemals empfunden zu haben. Hier sprach die Natur deutlich genug;
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/189&oldid=- (Version vom 31.7.2018)