sind es, für die ich Euer Gnaden Güte in Anspruch nehmen möchte.
Ich fand sie auf meinen Streifereien im Norden von Paris, der gewohnten Beschäftigung meiner Mußestunden. Wer immer über das Pflaster zwischen dicht gereihten Häusern trottet, vergißt allmählich, daß man auch auf weichem Rasen zwischen grünen Bäumen gehen kann. Und das ist gut.
Die Kinder bettelten. Eins von ihnen, ein Mädchen, suchte im Kehricht nach etwas Eßbarem. Ich folgte ihnen, als sie abends heimgingen. Das eine Mal stieg ich bis unters Dach. In eine Kammer, die weder Schloß noch Riegel hatte, blickte ich durch die fingerbreiten Spalten der Holzwand. Ich sah eine Schar von Kindern, die sich, von Hunger gepeinigt, über die eklen Speisereste stürzten, die das Mädchen aus der Gosse gefischt hatte und ihnen zuwarf. Ein andermal folgte ich einem Kinde in ein feuchtes Kellerloch tief unter dem Boden der Straße. Ein triefäugiges Weib riß ihm die Lumpen von den mageren Gliedern, ein anderes betrachtete die armselige Gestalt mit gierigen Blicken, als wäre es ein Stück raren Fleisches. Um fünf Sous kaufte sie schließlich die Kleine.
Seitdem ist es meine Leidenschaft, Kinder zu suchen. Ich habe mir schon eine lange Liste von denen angelegt, die ich fand. Es sind in sechs Gassen schon dreiundsiebzig, Mädchen und Knaben.
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/163&oldid=- (Version vom 31.7.2018)